Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
bist nicht allein. Wende dich nicht von allen ab, die dich lieben, weil du einmal verletzt wurdest.“
Sie sah ihm in die Augen. Dann lächelte sie. In diesem Moment fühlte Julius sich zum ersten Mal seit Patricias Verrat getröstet und nicht länger allein.
Inzwischen war die Hälfte der von Norvan festgesetzten Frist vergangen. Nach ihrem Entschluss, Pierre zu befreien, hatte Norvan in aller Eile alle Aktionen der Untergrundbewegung abgesagt, um keine Aufmerksamkeit auf sich und seine Verbündeten zu lenken. Allerdings machte er sich keine Illusionen, wer im Mittelpunkt des Interesses der Druiden stand. Seine revolutionären Gedanken waren seinem Onkel schon lange ein Dorn im Auge, doch bisher hatte er Baruk keinen Anlass zum Eingreifen gegeben. Jetzt aber kam es nicht nur darauf an, selbst unauffällig zu bleiben. Auf keinen Fall durfte er das Leben seiner Schwester gefährden.
Am Abend des zwanzigsten Tages des Monats erreichte Norvan ein weiteres Mal das Ufer der Gefängnisinsel. Lange hatte er gezögert und an der Notwendigkeit dieses Besuches gezweifelt. Rowena war dagegen, den Elfen über ihre Pläne zu informieren. Aber sie war nicht dabei gewesen. Norvan befürchtete, dass nicht einmal einer der Kandari ohne Hoffnung lange in dem Gefängnis von Andra’graco überleben konnte. Deshalb war er heute hier.
Mit kaltem, finsterem Blick trat er ans Ufer, er hatte diesen Gesichtsausdruck lange trainiert. Als Baruks Neffen stand es ihm frei, zu kommen, wann immer er wollte. Mit einer knappen Geste bedeutete er den Wachen, ihn zu begleiten, als er mit gemessenen Schritten auf die Kerkermauern zuging.
Norvan hasste den Anblick des Gefängnisses. So viele Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestanden hatte, offen ihre Meinung zu sagen, waren hier gestorben, qualvoll und langsam und ohne die geringste Hoffnung auf Gnade. Nie zuvor hatte er auch nur darüber nachgedacht, einen von ihnen zu befreien. Es galt als unmöglich. Und er, der er die Sicherheitsvorkehrungen kannte, hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Das wurde ihm deutlich bewusst, als er durch das schwer bewachte Tor in den Innenhof trat. Es waren nicht nur die Wachen. Normale Menschen konnten getäuscht werden. Der eigentliche Grund für die Ausbruchsicherheit des Gefängnisses waren die Druiden mit ihrer Fähigkeit, Gedanken zu lesen und ihrer Macht, jeden, der dennoch den hoffnungslosen Versuch wagen sollte, zu vernichten.
Ohne sich um die misstrauischen Blicke der Wache zu kümmern, überquerte er den Hof und betrat das Hauptgebäude. Eine Welle feuchter, kalter Luft schlug ihm entgegen und es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Entschieden verbannte er jedes Schuldgefühl, jeden Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Hierseins und schlug den Weg in die untere Etage ein.
„Herr“, einer der Wächter versperrte ihm den Weg, „das Betreten dieses Teils ist ohne Baruks Erlaubnis verboten.“
„Du wagst es, meine Berechtigung infrage zu stellen?“, fauchte Norvan in einem Tonfall, den er von seinem Onkel übernommen hatte.
„Na-natürlich nicht, Herr“, stotterte der Mann und gab eilig den Weg frei. Mit selbstsicherem, herrischem Blick stolzierte Norvan an ihm vorbei.
In Laprak wusste jeder, was es bedeutete, im tiefsten Keller eingesperrt zu werden. Es war ein Todesurteil, mit oder ohne Verurteilung. Ob durch die Axt des Henkers oder durch Folter, keiner derer, die hier eingekerkert waren, sah lebend das Tageslicht wieder.
Nachdem er unzählig viele Stufen hinabgestiegen war, erreichte Norvan die Zelle des Kandari. Zwei Wachen standen vor der Tür und zogen bei seiner Ankunft die Schwerter. Bei ihrem Anblick verließ ihn beinahe der Mut, denn die Wächter trugen die Uniform des Druidenordens. Sie gehörten zu den Menschen, deren magische Begabung nicht ausreichte, um zum Druiden ausgebildet zu werden. Mit einem Selbstbewusstsein, das Norvan in keiner Weise empfand, trat er auf sie zu: „Gebt den Weg frei! Ich muss mit dem Gefangenen sprechen“, herrschte er sie an.
Unbeeindruckt von seinem groben Ton steckten sie die Waffen weg und der größere der beiden schloss die Tür auf. Ungefragt trat er vor Norvan ein.
„Ich muss allein mit ihm sprechen.“
„Das ist gegen die Vorschrift.“
„Wenn ich mich richtig erinnere“, sagte Norvan so leise und kalt wie möglich, „gibt es in Laprak nur eine Vorschrift. Und das ist Baruks Wille.“
Schulterzuckend trat der Mann zurück und
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