Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Augenbrauen auf ihn herabsah. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre er wahrscheinlich erstaunt und erfreut gewesen, jetzt gab er nur ein schwaches „Oh“ von sich und wandte sich wieder der Stadt zu.
Larenia kümmerte sich nicht um diese unterkühlte Begrüßung, sie schien nichts anderes erwartet zu haben. Ohne etwas zu sagen, lehnte sie sich ein Stück von Julius entfernt an das Geländer. Eine Weile bewegte sich keiner. Das rotgoldene Licht des Sonnenuntergangs war verblasst und die graue Dämmerung legte sich über die Stadt.
Plötzlich sprang Julius auf: „Was soll das? Spionierst du mir jetzt nach?“, er wusste, dass es Larenia gewesen war, die Patricias Verrat entdeckt hatte, „ich tue meine Pflicht. Was ich mit meiner Freizeit anfange, geht dich nichts an.“
Die Gildeherrin zuckte nur mit den Schultern.
„Tu, was du willst, ich werde dich nicht hindern“, sagte sie in friedlichem Tonfall. Julius starrte sie noch einen Augenblick lang misstrauisch an. Dann wich er ein paar Schritte zurück bis an das gegenüberliegende Geländer.
„Warum bist du dann hier? Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Warum lasst ihr mich nicht alle in Ruhe?“, Larenia sah ihn weiter unverwandt an, doch Julius achtete nicht mehr auf sie, „jeder fragt mich, wie es mir geht, wie ich mich fühle. Dabei kümmert es sie nicht, es ist ihnen vollkommen egal. Wahrscheinlich wirst du mich auch gleich fragen. Aber was interessiert es dich, wie ich mich fühle. Du weißt ja nicht einmal, was Gefühle sind.“
Er war zu weit gegangen, das sah er sofort. Mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen trat sie auf ihn zu. Früher wäre er ängstlich zurückgewichen und auch heute erwog er, sich zu entschuldigen. Doch dann überlegte er es sich anders und sah Larenia herausfordernd an.
„Hast du dich in den letzten Tagen ein einziges Mal lange genug von deinem Selbstmitleid befreit, um an Julien zu denken? Diese Angelegenheit hat deinen Vater genauso hart getroffen wie dich. Und was mich betrifft …“, sie unterbrach sich und trat einen Schritt zurück. Als sie schließlich weitersprach, klang ihre Stimme leise und verändert, „glaubst du das wirklich? Denkst du, ich wäre schon immer so gewesen?“, sie wandte sich ab und ging ein paar Stufen hinunter. „Du weißt nichts über mich oder mein Leben.“
Gegen seinen Willen fasziniert folgte ihr Julius: „Was ist geschehen?“
Einen Moment lang dachte er, sie würde einfach gehen. Aber dann sah sie zu ihm auf und verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln.
„In mancher Hinsicht ähneln sich unsere Geschichten. Ich wurde im Jahr 39 des zweiten Zeitalters in Asana’dra geboren“, sie bemerkte Julius’ ratloses Schulterzucken, „das ist eine kleine Insel vor der Küste Terraniens. Als ich sechzehn Jahre alt war, schickte mich meine Mutter nach Hamada. Vielleicht war es richtig, aber ich fühlte mich damals verraten. Hamada bedeutete für mich mehr als nur ein fremdes Land und neue Gesichter. Aber du weißt nichts von den Bewahrern und ihrem Einfluss, und selbst wenn ich es dir erklärte, würdest du es nicht verstehen. Ich war die Tochter des Königs und ich versuchte, dementsprechend zu handeln. Ebenso wie du. Ich hatte die Wahl: meinem Volk oder der Regierung die Treue zu halten. Wir lebten ständig am Rand eines Bürgerkrieges. Ich entschied mich für mein Volk und irgendwann kam es zum Aufstand. Die Bewahrer spielten uns gegeneinander aus. Was genau geschah, ist für dich unwichtig. Ich weiß es selbst nicht genau“, sie senkte den Blick, aber Julius glaubte, zum ersten Mal hinter ihre mühsam aufgebaute Fassade zu blicken, „mein eigener Vater hat mich aus Hamada verbannt. Ich hatte alles verloren. Mein Volk hält mich für eine Verräterin. Und alles, was mir blieb, war die Erkenntnis, dass die Bewahrer mich und meine Fähigkeiten ausgenutzt hatten, dass meine eigene Schwester es kaum erwarten konnte, meinen Platz einzunehmen, und dass Laurent, dem ich vertraut hatte, sich für Stillhalten und Abwarten entschieden hatte“, sie sah Julius an. Inzwischen war es dunkel, dennoch erschrak er vor der Intensität dieses Blickes, „ich wollte nicht mehr verletzt werden, darum entschloss ich mich, niemandem zu vertrauen. Ich hielt alles und jeden auf Distanz und ließ keinen mehr an mich heran. Glaube mir, es waren einsame Jahre. Darum bitte ich dich um eins: Begehe nicht die gleichen Fehler. Ich hatte großartige Freunde, die immer für mich da waren. Und auch du
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