Das Vermächtnis der Schwerter
Gefühlsregung.
Rai begann, an dem Vorhang herumzuspielen, neben dem er immer noch stand. »Zunächst einmal wurde er von schwerer Gicht geplagt, die ihm zunehmend die Freude an seinem über alles geliebten Beruf nahm. Er führte lange Zeit eine Artistentruppe an, die im ganzen Land für ihre Kunststücke berühmt war. Die Schmerzen in seinen Gelenken verdammten ihn jedoch bald zur Untätigkeit und er musste seinem einzigen Sohn die Verantwortung übertragen.«
»Das war dann wohl dein Vater«, stellte Arton fest. »Du bist also beim fahrenden Volk groß geworden?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Rai leise. »Meine Eltern hatten ein Kunststück einstudiert, bei dem mein Vater ein Dutzend Messer auf eine Holzwand schleudern musste, ohne dabei meine Mutter zu treffen, die mit dem Rücken an dieser Zielscheibe stand. Bei einer unserer Vorführungen in Tilet bestand ein betrunkener Edelmann darauf, ebenfalls sein Wurfgeschick zu erproben und traf meine Mutter dabei in den Bauch. Als mein Vater auf ihn losging, wurde er von den Wächtern des Mannes erschlagen. Meine Mutter starb wenig später an der Messerwunde. Daraufhin zerbrach unsere Truppe und ich musste mich mit meinem Großvater allein durchschlagen.«
Immer noch zeigte Arton keinerlei Anteilnahme, außer dass er eine Weile in nachdenkliches Schweigen verfiel. »Das muss sehr schwer für dich gewesen sein«, bemerkte er schließlich bedächtig, »ohne Vater aufzuwachsen. Bist du deshalb zum Dieb geworden?«
Rais Blick richtete sich finster auf den Schwertkämpfer. »Du sagst das so, als wäre es etwas Schlechtes, ein Dieb zu sein. Es war meine einzige Möglichkeit, zu überleben, schließlich musste ich etwas zu essen beschaffen. Deshalb bin ich stolz darauf, was ich getan habe.«
»Bist du nie auf den Gedanken gekommen, einen ehrbaren Beruf zu ergreifen?«, erkundigte sich Arton provozierend. »Ich meine, warum hast du nicht deinem Vater nachgeeifert und bist Artist geworden? Jeder versucht doch normalerweise, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.«
»Ich war zu jung«, erwiderte Rai beleidigt. »Die Kunststücke eines Vierjährigen bringen die Leute nicht dazu, ihre Geldbörsen zu öffnen. Tatsächlich habe ich es auch einmal als Küchenhilfe versucht und es endete in einem Desaster. Aber das ist eine andere Geschichte.« Er furchte ärgerlich die Stirn. »Und jetzt verrat mir doch mal, was du denn eigentlich als ›ehrbaren‹ Beruf ansiehst! Ist es denn ein Verbrechen, dass ich denen ein wenig weggenommen habe, die sowieso mehr besaßen, als sie jemals brauchen würden? Ist es wirklich besser, zu lernen, wie man Menschen mit einem Schwert größtmöglichen Schaden zufügen kann, so wie du?« Rai wurde mit jedem Wort wütender. »Warum ist die Kunst, zu töten, ehrbarer als das Handwerk des Diebstahls? Nur weil dein Vater ebenfalls ein Meister im Leuteerschlagen war?«
Plötzlich hielt Rai inne. Er wusste, dass er zu weit gegangen war, sobald er seinen letzten Satz ausgesprochen hatte. Aber wie immer, wenn er sich geringschätzig behandelt sah, gelang es ihm nicht, seinen Zorn zu zügeln. Arton in dessen momentaner Verfassung so zu reizen, kam an Leichtsinnigkeit in etwa einem Schlag auf die Nase eines verwundeten Wolfes gleich. Doch nichts geschah, Arton verzog keine Miene.
»Ich wollte dich nicht beleidigen, Arton«, murmelte Rai entschuldigend. »Aber ich hatte nun einmal nicht das Glück, mir meinen Beruf aussuchen zu können. Ich wäre gerne ein Artist wie mein Vater geworden, doch ich schäme mich auch nicht dafür, ein Dieb zu sein.«
»Du bist stolz auf deine Fähigkeiten«, erwiderte Arton, ohne Rai dabei anzusehen, »und darauf, dass du aus eigener Kraft dein Leben gemeistert hast. Das verstehe ich und ich will dir diese Leistung gar nicht absprechen.« Er zögerte eine Weile, bevor er weitersprach. »Es ist nur so, dass ich seit über einem Jahr zu erfahren versuche, wer mein wirklicher Vater war. Für mich sind die Taten und das Wesen eines Vaters ein Orientierungspunkt so wie das Feuer eines Leuchtturms, dem man zustreben oder von dem man sich wenigstens bewusst abwenden kann. Wenn dies fehlt, fällt es sehr schwer, den richtigen Pfad im Leben zu finden. Du hattest zumindest für kurze Zeit einen Vater, deshalb haben mich die Gründe dafür interessiert, warum du ein anderes Handwerk ergriffen hast als er.«
Dieses freimütige Bekenntnis des sonst so abweisenden Schwertkämpfers versetzte Rai in Erstaunen. Er hätte es nicht
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