Das Vermächtnis der Schwerter
anderen Ende der Insel gelebt, da ihr gemeinsamer Vater die Nähe seines zweiten Sohnes nicht ertragen konnte. Turael Arud’Adakin machte ihn insgeheim für den Tod seiner über alles geliebten Frau verantwortlich, die bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben war. Ihr frühes Dahinscheiden hatte aus dem vorher kühnen Recken, umsichtigen Herrscher und liebevollen Vater in Megas’ Augen einen gramgebeugten Weichling werden lassen, der für nichts und niemanden mehr irgendein Interesse aufzubringen vermochte. Wenn Megas darüber nachdachte, war er im Grunde nicht nur ohne Mutter, sondern auch ohne Vater aufgewachsen. Er hatte sich geschworen, sein Leben niemals in solch selbstzerstörerischer Weise an einen Menschen zu ketten wie sein Vater. Trauer, Reue, Mitleid, Liebe, all dies stellte für ihn nur nutzlosen Ballast auf dem ohnehin beschwerlichen Weg durchs Leben dar. Wahrhaft groß – so dachte er – wurden nur diejenigen, denen es gelang, solche Bürden abzulegen, um ungehindert ihr Ziel anstreben zu können. Megas selbst glaubte sich diesem Ideal schon sehr nahe, sein Vater hingegen verkörperte für ihn das genaue Gegenteil davon.
Umso bedenklicher fand Megas es deshalb, dass der Inselherr sich nun dazu durchgerungen hatte, seinen zweiten Sohn nach so langer Zeit wieder in den Palast zu bestellen. Megas kannte seinen jüngeren Bruder kaum, denn dieser war von seinem Vater schon kurz nach seiner Geburt in die Obhut einer befreundeten Familie gegeben worden, die so weit entfernt von der Hauptstadt Lechia wohnte, wie es auf der Insel Ho’Neb möglich war. Seine Rückkehr konnte eigentlich nur bedeuten, dass Turael die Pläne seines älteren Sohnes zumindest ansatzweise durchschaut hatte und ihnen mit diesem unerwarteten Schritt irgendwie zu begegnen versuchte. Megas beschlich eine gewisse Anspannung, denn dieses bevorstehende Wiedersehen versprach unerfreulicher zu werden, als er gedacht hatte.
Nachdem Megas und seine Begleiter auf kürzestem Weg über die schmale Verbindungstreppe von einem Stockwerk des schneckenförmigen Baus zum nächsten gelangt waren, befanden sie sich nun ganz oben vor dem Eingang in den Thronsaal, dessen breites, zweiflügliges Tor mit einem schillernden Schneckenmosaik geschmückt war. Auf beiden Seiten standen zwei Wachposten, die jeweils mit einem langen Spieß, einem Schwert und der reich verzierten Prunkrüstung der Palastgarde ausgestattet waren. Megas nahm diese ungewöhnlich starke Bewachung als weiteres Zeichen dafür, dass sein Vater die drohende Gefahr für seinen Thron sehr wohl vorhergesehen hatte.
»Darf ich jetzt um Euer Schwert bitten«, forderte ihn der Kanzler höflich auf. »Ich werde es aufbewahren, während Ihr im Thronsaal seid.«
Nach einem kurzen Blick auf die bereitstehenden Wachen zog Megas belustigt die Augenbrauen in die Höhe. »Vertrauen ist ein kostbares Gut, wer´s dem Falschen schenkt, bezahlt mit Blut«, zitierte er ein auf der Insel recht geläufiges Sprichwort, während er seinen Schwertgurt ablegte. »Die Frage ist nur, wer der Falsche ist …«, fügte er vielsagend hinzu.
Der Kanzler nickte nur und gab das Schwert an einen der ihn begleitenden Diener weiter. Eine der Wachen öffnete das Tor zum Thronsaal, worauf der Kanzler nach vorne trat und mit klangvoller Stimme verkündete: »Eure Hoheit, Prinz Megas Arud’Adakin ist jetzt da.« Danach zog er sich wieder dezent zurück und gab Megas mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er jetzt eintreten dürfe.
Dieser tat, wie ihm geheißen, und durchschritt, ohne zu zögern, das Portal. Mit einem dumpfen, von den Wänden widerhallenden Schlag schloss sich die Tür hinter ihm. Nach der Düsternis des Vorraums wurde Megas durch die gleißende Helligkeit im Thronsaal regelrecht geblendet. Das Sonnenlicht flutete durch Dutzende von farbigen Fenstern im kuppelförmigen Dach des Saals herein und wurde von zahllosen Perlmutt- und Edelsteinsplittern gebrochen, die an langen Schnüren bis etwa zwei Schritt über seinem Kopf von der Decke hingen. Dadurch entstand ein verwirrendes Lichterspiel, das am ehesten mit dem Glitzern der Sonnenstrahlen auf der Meeresoberfläche zu vergleichen war.
Aber anders als die meisten Fremden ließ sich Megas durch diese kunstvolle Zurschaustellung der Pracht und Herrlichkeit des Palastes nicht beeindrucken. Der Thronsaal war ihm aus seiner Jugend bestens bekannt. Was ihn jetzt weit mehr interessierte, war, einen Blick auf seinen unverhofft zurückgekehrten Bruder zu
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