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Das Vermächtnis der Schwerter

Titel: Das Vermächtnis der Schwerter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rothballer
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nicht nur an eine Lampe sowie an Feuerstein und Zunder zum Entzünden des Lichts gedacht hatte, sondern dass er in einer Tasche unter seinem Mantel auch einige Nahrungsvorräte mit sich führte.
    Gleich drauf hatte Nessalion alles, was zum Feuermachen nötig war, wieder unter seinem Mantel verstaut, nahm die Lampe in die linke Hand und zog mit der rechten an Rais Fessel.
    »Komm, steh auf!«, sagte er barsch.
    Doch Nessalion hatte Rai inzwischen an einen Punkt gebracht, an dem Verzweiflung und Wut mit solcher Macht Besitz von dem jungen Tileter ergriffen, dass die Angst vor dem, was sein Entführer mit ihm vorhatte, in den Hintergrund gedrängt wurde. Was konnte ihm Nessalion denn noch Schlimmeres antun, als ihn wieder an diesen Ort des Schreckens zu bringen, wo Rai tagelang um sein Überleben gekämpft hatte, quälenden Hunger, Erschöpfung und Schmerzen hatte erdulden müssen? Er hatte nichts mehr zu verlieren.
    »Ich rühr mich hier nicht weg!«, schrie Rai seinem Peiniger entgegen. Seine Stimme hallte gespenstisch von den Höhlenwänden wider. »Mach, was du willst, aber ich werde keinen Schritt mehr tun! Du kannst mich ja an dem Seil über den Boden schleifen, bis ich tot bin.«
    Nessalion sah ihn aus dunklen Augen an. »Du wirst jetzt mit mir in die zweite Sohle hinuntersteigen, dort Steine klopfen, diese dann hier heraufschleppen und das so lange, bis du nicht mehr kannst. Du sollst das erleiden, was auch mein Sohn erleiden musste.«
    »Ich habe selbst lang genug Rötel geklopft und ihn zur Tauschhöhle getragen«, fauchte Rai außer sich, »du brauchst mir nicht zu zeigen, wie schlimm das ist.«
    »Nein, du weißt nicht, was es bedeutet, beinahe ein Jahr hier unten zu sein«, rief Warsons Vater mit zitternder Stimme. »Du warst nur ein paar Tage hier. Weißt du denn, wie lange ein Jahr sein kann? Ein Jahr hat mein Sohn dieses Schicksal ertragen müssen, und kurz bevor wir befreit werden, muss er hier unten sterben. Nichts weißt du! Du weißt nicht, was es heißt, sein Kind zu verlieren, mit ansehen zu müssen, wie Ulag das Leben aus ihm quetscht. Du hast keine Ahnung, wie es ist, den zuckenden Körper deines Sohnes im Arm zu halten, und wie es sich anfühlt, wenn du noch nicht einmal verhindern kannst, dass sein Leichnam von den Fluten davongespült wird wie wertloses Treibgut.«
    »Das ist alles nicht meine Schuld«, schrie Rai so laut zurück, dass sich seine Stimme überschlug. »Ulag hat deinen Sohn getötet, nicht ich, und du würdest das begreifen, wenn dich Warsons Tod nicht völlig um den Verstand gebracht hätte.«
    »Nimm seinen Namen nicht in den Mund, du Stück Dreck!«, kreischte Nessalion und begann vollkommen von Sinnen, an der Sackkordel zu ziehen. Rai versuchte, sich in blanker Verzweiflung an den Wänden des Transportkorbes festzukrallen, obwohl er seine Hände wegen der Fessel kaum bewegen konnte. Doch Nessalion zerrte mit solcher Gewalt, dass sich Rais Finger lösten und er über den Höhlenboden geschleift wurde. Mit Händen und Füßen suchte er nach Halt, aber er fand nichts außer blankem Fels.
    Dennoch forderte diese anstrengende Fortbewegung auch von Nessalion ihren Tribut. Bald schon keuchte er vor Anstrengung und schließlich, als er mit seiner widerspenstigen Last kaum noch vom Fleck kam, sackte er einfach in sich zusammen und blieb als leise wimmerndes Bündel am Boden liegen.
    Rai rappelte sich mühsam auf. Vorsichtig versuchte er, die schlingenförmige Sackkordel, die seine Arme an den Hüften fixierte, zu lockern, was jetzt, da Nessalion das Seil nicht mehr unter Zug hielt, erstaunlich einfach war. Ein wenig verwirrt durch den plötzlichen Zusammenbruch seines Entführers, behielt Rai ihn misstrauisch im Auge, bis er endlich den muffigen Sack abgestreift und damit seine volle Bewegungsfreiheit zurückerlangt hatte. Dann blieb der kleine Tileter unschlüssig stehen, weil das Triumphgefühl, sich endlich aus der Gewalt seines Peinigers befreit zu haben, überschattet wurde von dem Mitleid, welches er plötzlich für den verzweifelten Mann empfand. Bewegungslos kauerte Nessalion auf dem kalten Felsenboden. Im Licht der Öllampe, die er immer noch mit einer Hand umklammert hielt, konnte Rai erkennen, dass sein Körper in unregelmäßigen Abständen von stummem Schluchzen erschüttert wurde. Vielleicht hatte ihm die Erkenntnis, dass sein Racheplan undurchführbar war, wenn sein Opfer sich weigerte, mitzuspielen, das brüchige Gerüst seines Verstandes endgültig in sich

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