Das Vermächtnis der Schwerter
zusammenstürzen lassen. Rai rang eine Weile mit sich, doch da er immer noch von Schuldgefühlen geplagt wurde, entschloss er sich schließlich, seinen Entführer anzusprechen.
»Nessalion …?«
Rai wusste eigentlich nicht, was er sagen sollte.
»Alles in Ordnung?«
Ihm war klar, dass das eine dumme Frage an jemanden war, den die Trauer um seinen verlorenen Sohn an den Rande des Wahnsinns gebracht hatte, aber es fiel ihm nichts Besseres ein. Dementsprechend bekam er auch keine Antwort.
Rai beugte sich zu Nessalion hinunter und legte ihm, immer noch auf der Hut, eine Hand auf die Schulter. »Warson war wirklich ein sehr freundlicher Junge und es tut mir unendlich leid, was ihm widerfahren ist. Ich fühle mich schuldig dafür, dass ich ihn für meine Zwecke eingespannt habe, aber du musst mir glauben, dass ich es niemals für möglich gehalten hätte, dass Ulag ihn nur wegen der größeren Rötelmenge, die Warson tauschen wollte, einfach so …«, suchte Rai nach Worten, die das Ganze möglichst schonend umschrieben, »… dass er ihn dir einfach so wegnimmt. Ulag war ein Dämon in Menschengestalt und wahrscheinlich spukt er nach seinem Tod bis ans Ende aller Zeiten in der Zwischenwelt herum, da er wegen seiner Taten niemals Xelos’ Feuer passieren wird. Dein Sohn ist hingegen mit Sicherheit in die Hallen der Unterwelt eingelassen worden und hat dort bestimmt seine Mutter getroffen, mit der er jetzt unbeschwert tafeln und über seinen geliebten Vater sprechen kann. Und du wirst sie dort wiedertreffen, wenn deine Zeit gekommen ist. Ich glaube fest daran, dass das so sein wird, und ich kann nur hoffen, dass es dir ein kleiner Trost ist.«
Nessalion hatte aufgehört, zu schluchzen. Er kniete am Boden, nach vorne gebeugt wie ein verkrümmter Ast. Als Rai schon dachte, Warsons Vater würde sich nie wieder bewegen, wandte ihm der verzweifelte Mann sein aschfahles Gesicht zu und öffnete seine Lippen, um etwas zu sagen. Dann aber blickte er unvermittelt an Rai vorbei und stammelte nur: »Xelos’ Feuer!«
Rai verstand zunächst überhaupt nichts, sondern schaute sich verwundert um. Dann sah er es selbst: Eine Reihe flackernder Lichter bewegte sich in der Dunkelheit auf sie zu, so als hätten Rais vorherige Worte über das Totenreich die Feuer der Unterwelt heraufbeschworen. Eine Flamme an der Spitze des Zuges schwebte in größerer Höhe als die anderen, und als die Lichter sich näherten, erkannte Rai, dass das vorderste Feuer am oberen Ende eines langen Stabes brannte. Dieser Anblick kam einem Tritt in die Magengrube gleich. Jetzt wusste Rai, wer die Träger dieser Fackeln waren. Wie hatte er das nur vergessen können? Die Xeliten! Sie waren die Einzigen, die nach der Befreiung der Sklaven freiwillig in der Mine zurückgeblieben waren.
»Steh auf, Nessalion«, rief er, während er erfolglos versuchte, seine Panik niederzukämpfen, »wir müssen weg hier!« Er packte Warsons Vater am Arm und versuchte, ihn hochzuziehen. Aber dieser starrte nur unbeteiligt den nahenden Trupp an und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Schließlich gab Rai auf. Aber wenigstens sich selbst musste er retten. Blindlings rannte er los. Allerdings hatte er in seiner Panik übersehen, dass sich bereits weitere Xeliten ohne Fackeln von der Seite genähert hatten. So lief er einem von ihnen direkt in die Arme. Rai trat und schlug nach Leibeskräften um sich, aber in seinem geschwächten Zustand vermochte er sich nicht zu befreien. Seine geringen verbliebenen Kräfte erlahmten rasch und so ergab er sich schließlich in sein Schicksal.
Der Xelit mit dem brennenden Stab in der Hand, der den Fackelzug anführte, kam langsam näher. Rai wurde sofort klar, dass es sich dabei um jenen Anführer der Xelosjünger handelte, mit dem er in seiner Zeit als Minensklave vor Ulags Tauschhöhle aneinandergeraten war, als er versucht hatte, sich als Xelit zu tarnen. Offensichtlich hatte sich der fanatische Anhänger des Feuergottes einen neuen Stock beschafft, nachdem sein alter von Arton zerbrochen worden war. Jetzt senkte er die Spitze des Stabes und näherte sich bedrohlich Rais Gesicht.
»Du kommst mir bekannt vor«, murmelte der Xelitenanführer, während Rai bereits die Hitze der Stabflamme an seiner Wange spürte.
»Xelos möge mich erleuchten«, bat der Anführer dann leise, der wie all seine Gefolgsleute in einen dunklen Umhang mit Kapuze gehüllt war. Er besah sich Rai einige Augenblicke, bis sich seine stechenden Augen plötzlich in
Weitere Kostenlose Bücher