Das Vermächtnis der Schwerter
gehen.«
AUSGELIEFERT
U nsanft rüttelte jemand an Rais Schulter. Es fühlte sich an, als würde ihn dieser unerbittliche Störenfried aus einer tiefen, wohligen und sicheren Höhle zurück in eine kalte, harte Wirklichkeit zerren. Ob er wollte oder nicht, Rai erwachte. Benommen schlug er seine Augen auf und sah über sich das hagere Gesicht seines Entführers, dessen verbitterte Züge ihm einen frostigen Schauer über den Rücken jagten.
»Weiter jetzt«, befahl Nessalion, »du hast lange genug geschlafen.«
Stöhnend versuchte Rai, sich herumzudrehen, musste jedoch feststellen, dass dies mit an den Hüften fixierten Händen nicht gerade einfach war. Schließlich gelang es ihm, sich hinzuknien. Stechende Schmerzen hämmerten auf ihn ein, die von der Wunde an seiner Schläfe, den zahlreichen Schnitten und Aufschürfungen an seinen Beinen und nicht zuletzt von seinen ausgelaugten Muskeln herrührten. So elend hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er noch ein Sklave im Bergwerk gewesen war, dabei waren sie noch gar nicht dort angekommen.
Nessalion zwang ihn durch kräftiges Ziehen an der Sackkordel zum Aufstehen und sie setzten ihren Weg zu Rais Hinrichtungsort fort. Genauso fühlte er sich: wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Henker. Nur dass seine Vollstreckung nicht kurz und weitgehend schmerzlos vonstattengehen, sondern sich so lange hinziehen würde, bis sein Körper die ihm abverlangten Strapazen nicht mehr länger ertragen konnte. Trotzdem hatte Rai die Hoffnung nicht gänzlich verlassen, denn er war zäh und bis zu seinem vollständigen Zusammenbruch würde sich möglicherweise noch die eine oder andere Gelegenheit ergeben, seinem Henker sozusagen vom Richtblock zu springen. Wenn er sich Nessalion genauer betrachtete, wirkte dieser ebenfalls nicht gerade so, als wäre er im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte. Vielmehr vermittelte dessen ausgemergelte Gestalt eher den Eindruck, als wären es nur noch Hass und Rachedurst, die ihn auf den Beinen hielten. Der Versuch, seinen Entführer durch Worte von dessen Vorhaben abzubringen, musste Rai wohl als gescheitert ansehen, zu groß war die Verachtung, die Nessalion für den Mörder seines Sohnes empfand. Also musste der kleine Tileter das bisschen an neu gewonnener Kraft, das ihm sein kurzer Schlaf geschenkt hatte, sparsam einteilen, um es im rechten Moment für seine Flucht nutzen zu können.
Mittlerweile hatten sie den ansteigenden Teil des Weges hinter sich gebracht und folgten jetzt dem ebenen Abschnitt der Straße, der zwischen den nächtlichen Silhouetten der flankierenden Baumriesen hindurchführte. Nessalion lief mit der Sackkordel in der Hand vor Rai her. Beide schwiegen und konzentrierten sich darauf, nicht über ihre müden Füße zu stolpern. Schließlich erreichten sie den Rand der Talsenke, in deren Mitte der Eingang des Bergwerks und die Schmiedesiedlung lagen.
Unglücklicherweise konnten nach der Befreiung der Minensklaven keinerlei Wachen in dem Turm vor der Mine zurückgelassen werden, die Rai nun hätten helfen können, da das Gebäude damals weitgehend ausgebrannt war. Außerdem hatte auch niemand eine Notwendigkeit darin gesehen, den Wachturm wieder zu bemannen, nachdem die Festung am Hafen eingenommen worden war. Lediglich ein blasses Leuchten aus dem Inneren einiger Hütten der Schmiedesiedlung zeigte, dass dort noch ein paar Bewohner zurückgeblieben waren, wenngleich auch kein Erz mehr zur Bearbeitung zur Verfügung stand. Es hatte den Anschein, als ob einige der Schmiede, trotz der Unwirtlichkeit dieser Ansiedlung, den Ort als ihr Zuhause betrachteten und ihn nicht verlassen wollten. Es war eine absonderliche Vorstellung für Rai, dass man die kahle Ebene am Eingang jener unterirdischen Folterstätte, aus der das Erz gefördert wurde, als Heimat ansehen konnte. Allerdings war es natürlich ungleich angenehmer, in den schäbigen Hütten am Rande der Mine zu wohnen, als im Inneren des Bergwerks den jämmerlichen Rest seines Daseins zu fristen. Eigentlich konnte Rai es noch immer nicht fassen, dass Nessalion tatsächlich so verrückt war, sie beide ein weiteres Mal in diesen Dämonenschlund hinabzubefördern. Aber genau dorthin, auf diesen großen Riss im felsigen Untergrund am tiefsten Punkt der Senke, marschierte sein Bewacher zu.
Der Förderkorb, der trotz der nächtlichen Dunkelheit erkennbar wurde, baumelte nicht mehr über dem Abgrund, sondern war von den Minenarbeitern nach dem Verlassen des Bergwerks
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