Das Vermächtnis der Schwerter
auf der hölzernen Plattform abgestellt worden, die vom Rand ungefähr zwei Schritt über den klaffenden Spalt ragte. Eigentlich sollte dieser breite Steg den Abstand zwischen dem normalerweise frei hängenden Korb und dem Spaltenrand überbrücken, damit ein leichteres Zu – und Entladen der Transportgondel möglich war. Da das Zugseil der Gondel jedoch nicht mehr von den eingespannten Ochsen gehalten wurde, hatte der Korb auf der Plattform gesichert werden müssen, denn sonst wäre er von seinem eigenen Gewicht nach unten gezogen worden. Dies brachte Rai auf einen Gedanken.
»Wie sollen wir nun eigentlich in die Mine gelangen«, fragte er behutsam. »Die Ochsen zum Bewegen der Gondel wurden alle in die Stadt gebracht.«
Nessalion, der sich anscheinend gerade dasselbe gefragt hatte, blieb verunsichert stehen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Das wird schon gehen«, sagte er gleichgültig und setzte seinen Weg fort.
Jetzt stieg mit unaufhaltsamer Macht die Angst in Rai hoch. Er widersetzte sich energisch dem Vorwärtsziehen seines Entführers. »Was meinst du damit, es wird schon gehen?«, rief er aufgeregt. »Willst du springen? Bist du vollkommen verrückt geworden?«
Nessalion wandte sich wieder zu ihm um. »Du wirst jetzt mitkommen«, knurrte er. »Steig einfach in den Korb, dann schiebe ich ihn von der Plattform und springe auf.«
Rais Augen weiteten sich ungläubig. »Aber dann rast die Gondel ungebremst mit uns nach unten. Wir werden beim Aufprall sterben!«
Nessalion zeigte ein dämonisches Grinsen. »Sei doch froh, dann ist es für dich schneller vorbei!«
Damit hatte Warsons Vater den Bogen überspannt. Rai ließ sich noch zwei weitere Schritte ziehen, dann wirbelte er plötzlich herum. Mit seiner ganzen Kraft versuchte er, sich loszureißen. Aber der Zeitpunkt war nicht gut gewählt. Nessalion hatte seinen Griff um die Sackkordel schon verstärkt. Der Fluchtversuch seines Gefangenen traf ihn nicht unerwartet. Es gelang ihm, das Seil festzuhalten. Er packte mit seiner zweiten Hand zu, stemmte sich mit den Schuhen in den Boden und wartete gelassen, bis sich Rais Kräfte bei seinem verzweifelten Befreiungsversuch erschöpften.
Als der kleine Tileter nach kurzem, vergeblichem Kampf auf die Knie sank, verlor Nessalion keine Zeit und zwang ihn durch rücksichtsloses Ziehen am Seil erneut dazu, ihm zu folgen. Es gelang Rai gerade noch, stolpernd wieder auf die Beine zu kommen, ansonsten hätte er seinem Entführer vermutlich auf Knien folgen müssen oder wäre von diesem einfach liegend mitgeschleift worden. Er hatte die Kraft, welche der Hass Nessalion verlieh, schlichtweg unterschätzt.
Ehe Rai noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurde er auch schon in die Transportgondel gestoßen und Nessalion begann keuchend, den massiven Flechtkorb von der Plattform zu schieben. Gleich würde sie in den Abgrund stürzen. Rai versuchte, auf die Beine zu kommen, aber schon begann der Korb, sich über die Plattformkante nach unten zu neigen. Ein letzter Ruck, Nessalion sprang hinein, die Konstruktion gab ein gequältes Ächzen von sich, dann ging es hinab in den aufgerissenen Rachen des Bergwerks.
Finsternis hüllte sie ein, als wären sie am Grunde des Ozeans angekommen. Der Aufschlag des Förderkorbs am Boden der Eingangshöhle hatte Rai umgeworfen, dennoch war die Wucht der Landung nicht so groß gewesen, wie er erwartet hatte. Tatsächlich war ihr Fall seltsam abgebremst worden, so als wären sie wirklich durch Wasser hinab in die Tiefe gesunken. Der kleine Tileter brauchte eine Weile, bis er begriff, was geschehen war. Vermutlich hatte das Zugseil der Gondel, das immer noch um die für das Anschirren von Ochsen gebaute Winde geschlungen war, beim Abwickeln ihren Sturz so weit gebremst, dass sie ihn unverletzt überstanden hatten. Rai fragte sich, ob Nessalion dies schon oben erkannt hatte oder ob es ihm in seiner Todessehnsucht einfach egal gewesen war.
Aber es zeigte sich, dass Nessalion nicht so kopflos handelte, wie sich angesichts seines verrückten Racheplans hätte vermuten lassen. Denn in diesem Augenblick nahm Rai ein leises Klopfen neben sich wahr, als schlüge jemand zwei Steine gegeneinander. Gleichzeitig waren winzige Funken zu sehen, die in der Dunkelheit der Höhle so hell wie ein Sonnenstrahl wirkten. Wenig später fing der Docht einer mitgebrachten Öllampe Feuer und schuf eine kleine Blase aus Licht in dieser mit Schatten gefüllten Kammer. Nun konnte Rai erkennen, dass Nessalion
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