Das Vermächtnis der Wanderhure
Michels Geist zusammen, und ehe er wusste, was er tat, saß ihr seine Hand im Gesicht. Es war die erste körperliche Züchtigung, die sie von ihm erhielt, diese Bemerkung hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
»Sage nie mehr etwas gegen Marie, sonst wirst du es bereuen!« Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen, und die Adern an seinen Schläfen traten hervor.
Schwanhild wich vor ihm zurück und berührte mit den Fingerspitzenihre schmerzende Wange. »Das hast du nicht umsonst getan!«
Mit einem erstickten Ruf wandte sie sich ab und stürzte davon. Ohne darauf zu achten, dass sie nur ein Hauskleid trug, eilte sie ins Freie und stieg auf die Wehrmauer.
Gereon, der auf dem Turm Wache hielt, bemühte sich, die Herrin zu ignorieren. Wie die meisten Burgbewohner trauerte auch er Marie nach, die in den wenigen Monaten ihres Wirkens auf Kibitzstein jedem das Gefühl gegeben hatte, willkommen zu sein. Die neue Frau des Herrn hatte jedoch nur Zank und Hader mitgebracht, und es stand zu befürchten, dass sie ihnen allen das Christfest verhageln würde. Obwohl der Reisige sah, wie dünn Schwanhild gekleidet war, kümmerte er sich nicht darum, denn in seinen Augen wäre es das Beste, wenn sie sich erkältete oder sich gar eine Lungenentzündung zuzog. Eine Krankheit würde sie über das Christfest hinaus ans Bett fesseln, und dann konnte Ritter Michel mit dem Gesinde unbehelligt von ihr die Geburt des Herrn feiern.
Schwanhild war es nach wenigen Augenblicken schon kalt, doch sie kehrte aus Trotz nicht in den Palas zurück. In dem scharfen Wind, der über die Höhen strich, schienen ihre Tränen zu kleinen, eisigen Tropfen zu gerinnen, und mehr denn je haderte sie mit ihrem Schicksal, das sie auf diese Burg verschlagen hatte. Warum nur habe ich Närrin dem Knappen damals erlaubt, mich zu küssen und meine Brust zu berühren?, fragte sie sich zum ersten Mal. Bis zu diesem Augenblick hatte sie über die Leute geschimpft, die sie dabei überrascht hatten, doch nun gab sie sich selbst die Schuld, dass ihre Verlobung mit dem jungen Grafen Öttingen geplatzt war. Wäre sie damals klüger gewesen, säße sie jetzt als dessen anerkannte und geliebte Gemahlin auf einer stolzen Feste im Schwabenland und müsste sich nicht mit einem widerspenstigen Gesinde und einem Mann herumschlagen, dem jegliche feine Lebensart fehlte.
Ein Schatten fiel über sie, und als sie den Blick hob, erkannte sie Junker Ingold, der mit einem pelzbesetzten Wollumhang auf sie zutrat und ihr das Kleidungsstück über die Schulter legte.
»Verzeiht, Herrin, aber Ihr dürft nicht in einem so dünnen Gewand in diesem eisigen Wind stehen.« Die Stimme des jungen Mannes klang weich und besorgt, und das tat ihrer verletzten Seele gut.
Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ihr seid so freundlich zu mir, Junker. Wenn doch nur alle hier so wären wie Ihr.«
Als er den Mantel zurechtzupfte, kam er ihrer Brust recht nahe und löste Gefühle in ihr aus, von denen sie geglaubt hatte, nur ihr Ehemann könnte sie entfachen. Für einen Augenblick lehnte sie sich gegen Ingold, erschrak dann aber über sich selbst und trat rasch einen Schritt beiseite.
Dabei bemerkte sie eine Bewegung, wandte sich um und sah Mariele an die Rundung des Turmes geschmiegt, als wolle sie sie belauschen.
Das Mädchen war dem Junker heimlich gefolgt und hatte die Szene beobachtet. Ihre Augen glühten vor Hass, nicht nur, weil die neue Herrin sie wie eine Spülmagd behandelte, sondern auch aus Eifersucht. Zuerst hatten sich ihre Gefühle auf Michel gerichtet, den sie eines nicht allzu fernen Tages über Maries Verlust hatte hinwegtrösten wollen. Die vom Kaiser arrangierte Heirat hatte diese Hoffnung zerstört, doch nach einer kurzen Zeit schmerzlicher Trauer, die sie sogar vor Evas scharfen Augen hatte verbergen können, war ihr Junker Ingold als der Inbegriff männlicher Schönheit erschienen. Diesen so vertraut bei Schwanhild stehen zu sehen, versetzte ihren Hoffungen und ihrem gerade erst keimenden weiblichen Selbstbewusstsein einen herben Stoß. »Hätte Herr Michel Euch so gesehen, würde ihm dies wohl kaum gefallen!«
Marieles anklagende Worte erregten Ingolds Zorn. »Beleidige nicht die Herrin, du unnützes Ding, sonst wirst du mich kennenlernen!« Er hob die Hand und trat auf Mariele zu, als wolle er sie schlagen, doch das Mädchen wich ihm flink aus und sprang mit einem höhnischen Lachen die Treppe des Wehrturms hinunter. Schwanhild blickte Mariele mit verbissener Miene nach. »Es
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