Das Vermächtnis der Wanderhure
nach vorne und starrte auf das froststarre Land, das sie umgab. Hier war alles hell und fahl, angefangen von dem Schnee, der den Boden so hoch bedeckte, dass er den Pferden bis an den Bauch und oft auch darüber reichte, über die hellen Birkenstämme, deren blätterlose Äste von Eis überkrustet waren, bis hin zum Himmel, der sich schier endlos und ohne eine Spur von Blau über ihren Köpfen spannte.
»Was sollen wir tun, Andrej Grigorijewitsch?«
Andrej hob unschlüssig die Arme. »Ich weiß nicht, was ich raten soll. Uns den Verfolgern zu ergeben, ist gewiss die schlechteste Lösung. Da Lawrenti deinen Gemahl verraten hat, kann er es nicht riskieren, Dimitris Sohn am Leben zu lassen.«
»Gewiss nicht!« Anastasias Blick wanderte zu Marie, die den Thronfolger unter ihren Mantel gesteckt hatte, um ihn zu säugen. Die Methode bot die einzige Möglichkeit in dieser Kälte, denHunger der Kinder zu stillen, doch Maries Milch reichte nicht für beide. Anastasia erwog kurz, Andrej zu befehlen, die kleine Lisa zu töten, damit Maries Brüste allein ihrem Sohn zugute kamen, doch die Angst vor Maries Reaktion ließ sie vor einem solchen Schritt zurückschrecken. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den jungen Edelmann.
»Weißt du keinen besseren Rat?«
Andrej bückte sich, nahm eine Hand voll Schnee auf und verrieb sie auf seinem Gesicht, in der Hoffnung, die Kälte würde seine Gedanken klären. »Ich habe schon überlegt, zu Sachar Iwanowitsch zu fliehen. Mein Verstand warnt mich jedoch vor diesem Schritt. Moskau hat rasch zugeschlagen, und es mag sein, dass der Mann sich Wassili II. zu Füßen werfen wird, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Gewiss käme es ihm gerade recht, wenn er die Witwe und den Sohn des Fürsten von Worosansk dem Großfürsten als Zeichen seiner Ergebenheit ausliefern könnte.«
»Du nennst mich Witwe? Bist du so überzeugt, dass mein Gemahl tot ist?«
Andrej nickte mit düsterer Miene. »Wenn Lawrenti von Dimitri abgefallen und zu den Moskowitern übergegangen ist, durfte er ihn auf keinen Fall am Leben lassen.«
»Der Satan soll diesen Verräter holen!« Die Fürstin spie angeekelt aus und wollte weitere Vorschläge hören.
»Da Sachar Iwanowitsch uns höchstwahrscheinlich dem Großfürsten ausliefern wird, könnten wir uns auch selbst nach Moskau begeben und Wassili um Gnade anflehen. Da du dem oströmischen Kaiserhaus entstammst, wird er es kaum wagen, dir etwas anzutun. Dein Sohn aber dürfte in höchster Gefahr schweben, denn man wird verhindern wollen, dass er seinen Vater an dessen Mördern rächen kann.«
Als Andrej den Vorschlag machte, nach Moskau zu gehen, zog sich Maries Magen schmerzhaft zusammen. Die Stadt lag nochweiter im Osten als Worosansk und der Ritt dorthin würde sie noch einmal etliche Tagesmärsche von ihrer Heimat entfernen. Deshalb atmete sie auf, nachdem Andrej die Gefahren aufgezählt hatte, die dem kleinen Wladimir dort drohen mochten, und die Fürstin mit dem Kopf nickte, denn das war seltsamerweise als Verneinung gedacht.
»Lass uns zu Fürst Juri von Galic reiten, der ist Wassilis Feind und wird uns gewiss willkommen heißen.«
»Das mag sein. Aber ich wage zu bezweifeln, dass wir dort in Sicherheit wären. Fürst Juri würde dich umgehend mit einem seiner Söhne oder einem vertrauten Bojaren verheiraten, um seinen Anspruch auf Worosansk zu untermauern. Dabei wäre dein Sohn sowohl ihm als auch deinem neuen Ehemann im Weg. Auch müsstest du beten, dass dein zweites Kind eine Tochter wird, denn sonst nimmt man es dir ebenfalls.«
Andrej klang ein wenig ratlos. Allein mit vier Frauen und zwei Kindern sah er kaum Chancen, weit zu kommen. Pantelej war ihm keine große Hilfe, sondern eher eine Last. In der Ferne hörte er Wölfe heulen. Die vierbeinigen Würger stellten eine ebenso große Gefahr für die kleine Gruppe dar wie die Verfolger, die ihnen jeden Augenblick den Weg verlegen konnten.
Anastasia starrte in die Richtung, aus der das Geheul erklungen war. »Also werden wir wohl in dieser Einöde erfrieren oder ein Opfer der grauen Bestien werden!«
Ihre Worte trieben Marie Schauer über den Rücken. Es war, als würde die Furcht, die sie gepackt hatte, ihre Milch versiegen lassen, denn Wladimir begann plötzlich zu strampeln und biss in ihre Brust.
»Aua, verdammt!« Marie zog ihn unter ihrem Mantel hervor und widerstand nur mit Mühe den Wunsch, ihn zu schütteln.
»Nimm ihn bitte und sieh nach, ob seine Windeln nass
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