Das Vermächtnis der Wanderhure
Brüder sich nicht zu sein.
Der Bann, der sich über die Halle gesenkt hatte, löste sich erstwieder, als einige der ausgesandten Krieger sichtlich nervös zurückkehrten.
»Die Fürstin ist nirgends aufzufinden«, berichteten sie.
Boris Romanowitsch fuhr herum. »Was sagt ihr da? Sie muss hier sein! Habt ihr den gesamten Kreml durchsucht? Nehmt mehr Leute und schaut in jeden Stall und in jede Hütte hinein. Notfalls grabt ihr die gesamte Stadt um! Sie muss gefunden werden!«
Während die Krieger vor dem Zorn ihres Anführers davonrannten, als sei der Teufel hinter ihnen her, blickte Lawrenti sich suchend um. »Hat jemand meinen Neffen gesehen? Der muss betrunken in einer Ecke liegen, und ich will nicht, dass einer der Krieger ihn aus Spaß erschlägt.« Niemand konnte seine Frage beantworten, und als der Tag anbrach, wurde klar, dass es Andrej gewesen sein musste, der der Fürstin und dem Thronfolger zur Flucht verholfen hatte.
Boris Romanowitsch tobte vor Wut, und Jaroslaw wirkte so verängstigt, als sähe er den Freund seines toten Bruders bereits an der Spitze eines großen Heeres in Worosansk einreiten.
Nachdem der Bojar sich halbwegs beruhigt hatte, wandte er sich an Lawrenti. »Schick Reiter los, die die Flüchtlinge suchen! Am besten ist, sie finden sie tot, dann kann man den Wölfen die Schuld in die Schuhe schieben.«
Lawrenti bleckte die Zähne. »Ich glaube nicht, dass Wölfe Schuh- oder Hufabdrücke hinterlassen. Aber ich gebe dir Recht. Wir müssen Andrej und die Fürstin verfolgen. Wenn du erlaubst, werde ich mich selbst an die Spitze der Männer setzen, denn ich kenne jeden Schlupfwinkel im weiten Umkreis.«
»Tu das!«, antwortete der Moskauer und befahl dann einigen Knechten, Dimitris Leichnam und die immer noch schlafenden Betrunkenen aus der Halle zu schaffen und dafür zu sorgen, dass der neue Fürst Jaroslaw standesgemäß Hof halten konnte.
VII.
I m fernen Kibitzstein war der Winter ebenfalls hereingebrochen. Schwanhild lebte bereits seit etlichen Monaten als Michels Ehefrau auf der Burg und konnte sich immer noch nicht mit den Verhältnissen abfinden. Auch an diesem Morgen baute sie sich vor Michel auf und starrte ihn zornig an. »Diese impertinente Bauerndirne muss bestraft werden. Ich bestehe darauf!«
Michel seufzte. Er hasste die Ausbrüche der jungen Frau, die in jedem Blick, jeder Geste und jedem Wort eine Missachtung ihrer Person sah und mit Drohungen so rasch bei der Hand war, als warte sie nur auf einen Vorwand.
»Gott im Himmel, kannst du nicht endlich Frieden geben? Mariele hat sich gewiss nichts Böses dabei gedacht, als sie den Mägden aufgetragen hat, die Halle für das Weihnachtsfest zu schmücken.«
»Es wäre meine Aufgabe gewesen, dies anzuweisen und zu sagen, wo die Tannenreiser aufgehängt werden sollen. Das Bauernding aber führt sich auf, als sei es hier die Herrin und ich nur ein geduldeter Gast!«
Michel schüttelte sich innerlich und fragte sich, weshalb das Schicksal ihn mit einer solch zänkischen Frau geschlagen hatte. Mehr denn je sehnte er sich nach Marie, die zu jedermann freundlich und verbindlich gewesen war, und die Trauer, die er in einem Winkel seines Herzens verbannt hatte, überschwemmte wieder seinen Geist.
Seine Gefühle ließen ihn harscher reagieren, als er eigentlich wollte. »Mariele wäre gewiss ehrerbietiger zu dir, wenn du sie nicht wie eine einfache Magd behandeln würdest.«
»Sie ist eine einfache Magd!«, keifte Schwanhild.
»Weib, du reizt mich!« Michels Stimme nahm ebenfalls an Lautstärke zu. »Mariele wurde von meiner Frau als Ziehkind nach Kibitzstein geholt, und nicht, um Magddienste zu leisten. Behandlesie, wie es ihr gebührt, und sie wird dir so dienen, wie du es dir wünschst.«
Schwanhild schüttelte mit einem misstönenden Lachen den Kopf. »Ich soll um die Gunst eines dreckigen kleinen Bauerntrampels buhlen? Ich, deine Frau? Bei Gott und der Heiligen Jungfrau, was bist du nur für ein Mann. Das Weib, mit dem du das Bett teilst, gilt dir weniger als eine Bauerndirne, die mit Mist zwischen den Zehen zur Welt gekommen ist. Wundern tut es mich nicht, denn du wurdest ja selbst als Sohn eines schmierigen Gassenschenks geboren.«
Michels Gesicht wurde bleich, und er presste die Fäuste zusammen, bis die Knöchel weiß hervorstanden. Schwanhild hatte ihm schon oft seine unedle Geburt vorgehalten, doch noch nie in solch beleidigenden Worten. Ich hätte mich weigern sollen, sie zu heiraten, dachte er. Aber er wusste,
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