Das Vermächtnis der Wanderhure
sind«, forderte sie Gelja auf, da Alika sich gerade um Lisa kümmerte. Sie richtete ihre Kleidung und wollte den Vorschlag machen,nach Westen zu reiten, denn sie hoffte, dass ihre Verfolger dann ihre Spur verlören.
Im gleichen Augenblick kam Andrej zu einer Entscheidung. »In Russland gibt es keinen Ort, an dem du sicher bist, Herrin. Auch können wir uns nicht nach Litauen oder Polen wenden, denn die Herren Vytautas und Jogaila sind Moskau zugetan und würden uns unbesehen an Wassili ausliefern. Daher bleibt uns nur ein einziger Weg, und der führt nach Süden durch die Tatarensteppe. Mit etwas Glück erreichen wir einen der von Genua besetzten Häfen am Schwarzen Meer und können von dort aus mit einem Schiff nach Konstantinopel fahren. In deiner Heimatstadt werden du und dein Sohn dem Zugriff der Moskowiter entzogen sein.«
Dieser Vorschlag gefiel Marie nicht besonders, denn für eine solch lange Reise benötigten sie mehr Glück, als das Schicksal einem Menschenleben zugestand. Aber wenn sie wider Erwarten Konstantinopel erreichten, mochte Alika und ihr dies zum Guten ausschlagen, dort würde es ihnen am ehesten gelingen, sich von Anastasia abzusetzen und ein Schiff zu finden, das sie nach Venedig brachte. Von dieser Handelsmetropole hatte sie schon viel gehört, da sie das Ziel zahlreicher deutscher Kaufleute war, die dort kostbare Waren aus dem sagenhaften Indien und anderen fernen Ländern erstanden, um sie daheim zu hohen Preisen zu verkaufen. Also würde sie in dieser Stadt Landsleute finden, die ihr helfen konnten, in die Heimat zurückzukehren. Sie griff unter ihren Mantel und tastete nach dem Beutel, den sie unter ihrem Kleid befestigt hatte. Auch wenn sie den Wert der hiesigen Münzen nicht genau kannte, so glaubte sie, genug Geld zu besitzen, um die wagnisvolle Reise antreten zu können. Daher nickte sie Andrej zu, um ihr Einverständnis zu erklären, während Anastasia auf griechische Art den Kopf schüttelte und damit ebenfalls ihre Zustimmung bekundete.
»Auf in die Heimat!«, rief sie mit so leuchtenden Augen, als sähe sie die große Stadt am Bosporus schon vor sich.Marie ließ sich von Anastasias Begeisterung anstecken und sah sich schon einen Arm um Michels Hals schlingen, um ihn innig zu küssen, während sie mit dem anderen Trudi an ihr Herz drückte. Dann glitten ihre Gedanken weiter zu der Frage, auf welche Art sie ihren Sohn den Händen Hulda von Hettenheims entreißen konnte, ohne sein Leben zu gefährden.
IX.
N achdem die Entscheidung gefallen war, gab es für Andrej keine Zweifel mehr. Der russische Winter war grausam zu jenen, die nicht genügend gegen die Kälte gewappnet waren oder sich zu weit von Siedlungen und Unterkünften entfernten. Dennoch bot er den Flüchtlingen eine geringe Chance, ihren Feinden zu entkommen. Vorerst war ihr schlimmster Feind die Kälte, denn sie saugte ihnen die Kraft aus den Knochen. Aber sie sorgte auch dafür, dass die Menschen bei ihren Hütten und in ihren Städten blieben, so dass die kleine Gruppe unbemerkt vorwärts kam. Lawrenti und die Moskowiter schienen nicht damit zu rechnen, dass Andrej mit den Frauen in die Tatarensteppe ritt, denn es gab keine Spur mehr von ihnen, und auch sonst hinderte niemand die Flüchtlinge daran, auf verschneiten Wegen südwärts zu ziehen.
Andrej erwog immer wieder, einen Schlitten zu besorgen, mit dem sie rascher vorwärts kommen würden als zu Pferd. Aber er wagte nicht, eine der Städte zu betreten oder sich einer der großen Herbergen zu nähern, die zumeist mitten in einem Dorf lagen und in denen neben Kaufleuten, die dem Wetter trotzen mussten, auch Krieger und Kuriere übernachteten. Um den Hunger seiner Schützlinge zu stillen, nutzte er jede Möglichkeit zur Jagd. Oft kam ihm der Zufall zu Hilfe, so scheuchten sie Hasen auf, die zumeist nicht schnell genug waren, seinen Pfeilen zuentkommen. Während die Menschen sich um ein kleines Feuer drängten und das halbgare Fleisch verschlangen, knabberten die Pferde Rinde von den Bäumen und rupften dünne Zweige ab, um ihre Bäuche zu füllen.
Einmal kamen sie einem Wolfsrudel in die Quere, doch Andrejs Pfeile, Pantelejs Gebete und die schrillen Schreie, die Marie und die anderen Frauen ausstießen, verscheuchten die Tiere. Anscheinend hatten die Bestien erst vor kurzem Beute geschlagen und waren nicht hungrig genug, Menschen anzugreifen.
Andrej zählte die Städte, an denen sie vorbeiritten, und atmete auf, als sie auch Tula seitlich hinter sich
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