Das Vermächtnis der Wanderhure
freiwillig zwischen Reisigen und Knechten schlief, doch sein hämischzufriedener Gesichtsausdruck verriet, dass er irgendeine Bosheit begangen haben musste. Nun wusste Michel, wer Michi eingesperrt hatte. Landulf war wie den meisten hier klar gewesen, dass Marieles Bruder alles tun würde, um seine Schwester zu retten, und hatte es unterbinden wollen.
Michel bedauerte schon seit längerem, dass er sich von Schwanhildhatte breitschlagen lassen, den aufgeweckten Michi durch diesen Tölpel zu ersetzen. Landulf würde noch über die eigenen Füße stolpern, wenn er vor dem Kaiser stand.
»Ich hätte hart bleiben müssen, auch was die neue Wirtschafterin und die Leibmagd meiner Frau betrifft. Anni hätte Schwanhild ebenso gut bedienen können wie Frieda.« Michels Worte hallten von den Wänden des Ganges wider, durch den er gerade schritt, als wollten sie ihn verspotten. Er zuckte zusammen, zog den Kopf ein und schlich so lautlos wie ein Dieb in seine eigene Kammer. Dort begann er sich auszuziehen. Dabei konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass die meiste Schuld an dem, was hier geschehen war, ihn traf, und die wenigste das Mädchen, das am nächsten Morgen dafür würde büßen müssen.
V.
E i Sonnenaufgang versammelten sich sämtliche Bewohner von Kibitzstein auf dem Burghof. Unter ihnen befanden sich auch Theres und die schwarze Eva, die erst bei ihrer Rückkehr erfahren hatten, was vorgefallen war, und nun Frau Schwanhild mit verächtlichen Blicken bedachten. Als der Junker erschien, wurde er mit Zischen und ärgerlichen Rufen empfangen. Die wenigsten auf der Burg glaubten Ingold, dass er so rein und unschuldig war, wie er geschworen hatte, und die meisten hielten die harte Strafe, die über Mariele verhängt worden war, für himmelschreiendes Unrecht.
Michel begrüßte weder seine Ehefrau noch den Junker, sondern setzte sich auf den bereitgestellten Klappstuhl und legte zum Zeichen seiner Gerichtsbarkeit die blanke Klinge seines Schwertes quer über die Oberschenkel. Wie es dem Anlass und seinem Stand angemessen war, trug er den roten, bestickten Waffenrock mit dem in Grün und Gold gehaltenen Wappen seines Besitzes.Ein schmaler Silberreif bändigte sein auf die Schultern fallendes Haar, das in den letzten anderthalb Jahren stark ergraut war.
Schwanhilds Sitz war schräg hinter dem ihres Gemahls aufgestellt worden. So konnte sie Michel unauffällig beobachten und in seinem Gesicht zu lesen versuchen, was in den nächsten Tagen und Wochen auf sie zukommen mochte. Auch wenn er das Mädchen für seine losen Reden bestrafen ließ, konnte ein Rest des Verdachts an ihr haften bleiben und ihren Gatten in einem Augenblick des Zorns zu Taten anstacheln, die sie das Leben oder die Freiheit kosten konnten. Angsterfüllt schlang sie die Hände um ihren gewölbten Bauch und hoffte zum ersten Mal, seit sie schwanger war, ein Mädchen zu tragen, denn bei den Zweifeln, die Michel trotz Ingolds Eid hegen mochte, würde ein Sohn es schwer haben, die Liebe und die Anerkennung seines Vaters zu erringen.
Sie ahnte nicht, dass ihr Ehemann in diesem Augenblick das Gleiche dachte. Einen Sohn, dessen Vaterschaft nicht über alle Zweifel erhaben war, wollte Michel nicht als Erben von Kibitzstein sehen. Würde Schwanhild eine Tochter zur Welt bringen, so war diese nur eine Nachgeborene, die hinter Trudi zurückstehen musste. Ein weiteres Kind aber würde es nach dem, was er ihretwegen der Tochter der besten Freundin seiner geliebten Marie antun musste, nicht geben.
Trudi zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Du darfst Mariele nicht wehtun!«
Es klang so zornig, dass Michel für einen Augenblick ihre Mutter zu hören glaubte. Er seufzte und winkte Anni zu sich. »Bring Trudi hinein und kümmere dich um sie.«
Die Magd, die Schwanhild zu Trudis Betreuerin ernannt hatte, zog ein schiefes Maul, denn sie hätte dem verzogenen Ding am liebsten ein paar Klapse versetzt. Michel achtete nicht auf die Alte, denn sein Blick bohrte sich in Annis Augen und brach ihren Widerstand. Das Mädchen zog Trudi an sich, die sofort zu plärrenbegann, und schleppte sie die Freitreppe hoch. Dabei schlug die Kleine mit ihren Fäustchen um sich und musste von Anni beinahe wie ein wildes Tier gebändigt werden.
»Gereon, du kannst Mariele holen!« Michels Stimme jagte den Zuhörern einen Schauder über die Rücken. Jetzt war er der gnadenlose Herr dieser Burg, der jede Verfehlung unnachsichtig ahndete.
Der Krieger ging mit
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