Das Vermächtnis der Wanderhure
Burg. Wo er hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Er würde seine Schwester fürs Leben zeichnen.
»Geh schon!«, befahl Michel.
Während der Junge so rasch davonlief, als müsse er vor ihm fliehen, umkrampfte Michel den Silberpokal, den einer der Diener ihm hingestellt hatte. Er trank jedoch nicht, sondern riss das Gefäß in einer jähen Bewegung hoch und schleuderte es gegen die Wand.
IV.
O bwohl nur ein laues Lüftchen wehte und kein Feind die Mauern von Kibitzstein bedrohte, wurde diese Nacht für einige zu der schlimmsten ihres Lebens. Am leichtesten war es noch für Mariele, denn sie weinte sich irgendwann in den Schlaf und wurde nicht von Schreckgebilden geplagt. In ihrem Traum sah sie stattdessen Marie, die ihr Mut zusprach.
Schlimmer war es für den Junker. Michel hatte ihn bei Sonnenuntergang gezwungen, seinen Schwur vor dem Altar der Burgkapelle zu wiederholen. In einer schier ausweglosen Lage gefangen, hatte Ingold von Dieboldsheim vor dem Gekreuzigten die Worte wiederholt, die Mariele anklagten, und nun sah er sich als Meineidiger im Höllenfeuer schmoren. Hätte der Wunsch, Schwanhilds Ehre selbst unter dem Opfer seiner ewigen Seligkeit zu bewahren, nicht ebenso stark in ihm gebrannt, wäre er Michel zu Füßen gefallen und hätte die Wahrheit bekannt. Aber der Burgherr würde sich wohl nicht überzeugen lassen, dass zwischen Schwanhild und ihm nicht mehr vorgefallen war als der eine Kuss auf ihre nackte Brust. Die ganze Nacht kniete der Junker in seiner Kammer und flehte Gott den Herrn, den Heiland und die Jungfrau Maria an, ihn nicht völlig zu verdammen.
Schwanhild hatte zunächst nur eine tiefe Erleichterung verspürt und war sogar froh, dass Mariele endlich die Strafe traf, die diesem aufrührerischen Ding gebührte. Danach würde es wohl niemandauf Kibitzstein mehr wagen, ihr Übles nachzureden. Ihre beiden vertrauten Dienerinnen Germa und Frieda machten sich nun über das Mädchen lustig und rieten ihrer Herrin, dafür zu sorgen, dass ihr Gemahl den Bauerntrampel samt dem anderen Pack, welches sich auf der Burg eingenistet hatte, zum Teufel jagte.
Mit einem Mal aber schauderte es Schwanhild, und es war, als hinge ihr Kind wie ein eisiger Klumpen in ihrem Leib. Im ersten Augenblick fürchtete sie schon, die Aufregung habe dem Ungeborenen geschadet, doch es machte sich mit kräftigen Bewegungen bemerkbar. Noch während Schwanhild erlöst aufatmete, wurde ihr zum ersten Mal seit Wochen wieder übel. Bis zum Abtritt war es zu weit, daher zog sie ihre Waschschüssel zu sich und erbrach sich.
»Herrin, was ist mit Euch?«, fragte Frieda besorgt. »Wartet, ich werde Euch Minzenöl holen! Das wird Euch helfen.«
Allein der Gedanke an den scharfen Geruch der Pfefferminzessenz verstärkte Schwanhilds Übelkeit. Sie schüttelte den Kopf und forderte die beiden Frauen auf, sie allein zu lassen.
»Du hast gewiss noch etwas in der Wirtschaft zu tun, Germa! Frieda soll sich um mein blaues Gewand kümmern, dessen Saum zerrissen ist.«
Mutter und Tochter sahen einander erstaunt an. Seit sie nach Kibitzstein gekommen waren, hatte Schwanhild sie eher wie gute Freundinnen behandelt als wie Mägde. Beide hatten jedoch die wechselnden Launen ihrer Herrin auf Magoldsheim zur Genüge erlebt. Daher neigten sie die Köpfe und verschwanden wie Schatten.
Schwanhild hüllte sich in eine Decke, denn mit einem Mal fror sie, als stände sie nackt im Schnee, und bei dem Gedanken an die Gefahr, der sie gerade entronnen war, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Es hatte wenig gefehlt, und sie wäre in Michels Augen als untreue Ehefrau gebrandmarkt gewesen. Nur derSchwur des Junkers hatte sie vor diesem Schicksal bewahrt, und dafür dankte sie Ingold im Stillen. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass dieser vor Gott dem Herrn Dinge geleugnet hatte, die geschehen waren, und sie glaubte noch die Berührung seiner Lippen auf ihrem Busen zu spüren. Das Gefühl brannte sich wie Säure in ihr Fleisch, und sie musste an sich halten, um nicht den Ausschnitt ihres Kleides aufzureißen und die Stelle mit Wasser abzuwaschen und zu kühlen.
»Um mich zu retten, hat Ingold sich auf ewig verdammt!« Laut ausgesprochen trafen sie die Worte wie ein Keulenhieb, denn sie begriff nun das volle Ausmaß des Opfers, das der Junker für sie gebracht hatte. Er hatte einen Meineid geschworen und würde dafür auf ewig der Höllenstrafe verfallen sein.
Zwei Stockwerke unterhalb von Schwanhilds Kemenate saß Michi in der Kammer, die er mit
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