Das Vermächtnis der Wanderhure
lockeren Schritten davon, als müsse er jeden Tag einen Delinquenten zu seiner Bestrafung führen, und kehrte kurz darauf mit Mariele zurück. Die Augen des Mädchens waren vom Weinen verquollen, doch um ihren Mund lag ein Ausdruck von Trotz und Wut. Gereon führte sie zu einem Pfahl, der unweit der Burgmauer in den Boden eingelassen worden war, und band sie mit den Händen an dem dafür vorgesehenen Ring fest.
Jetzt trat auch Michi, dem einer der Knechte die Tür geöffnet hatte, aus dem Palas und sah, wie seine Schwester vor aller Augen hilflos am Schandpfahl hing. Er ballte die Fäuste und machte Anstalten, auf Junker Ingold loszugehen.
Dieter, der mit ihm und Marie zusammen nach Rheinsobern gereist war, merkte es früh genug und hielt ihn fest. »Mach dich nicht unglücklich, Junge!«
Unterdessen hatten zwei andere Knechte das Becken mit der glühenden Kohle aus der Schmiede gebracht. Das Brandeisen darin leuchtete bereits rot. Bei dem Anblick begann Mariele zu zittern, während ihr Bruder wie ein kleiner Hund winselte, den man getreten hatte.
Michel achtete nicht auf die beiden, sondern schob seinen Stuhl etwas zurück, damit er seine Frau und den Junker beobachten konnte. Beide waren bleich wie der Tod. Schwanhilds Lippen bewegten sich, als bete sie, während Ingold die Zähne derart zusammenbiss, dass seine Wangenmuskeln wie Schnüre hervortraten.
»Das Urteil wurde gestern gefällt. Das Mädchen soll zehn harteHiebe erhalten und gebrandmarkt werden!« Michel war, als spräche ein Fremder durch seinen Mund. Er hob die Hand und gab Gereon das Zeichen, zu beginnen.
In dem Augenblick klang Landulfs Stimme auf. »So geht es nicht. Die Verbrecherin hat noch ihr Kleid an. Bei der Vollstreckung des Urteils muss sie jedoch nackt sein!«
Michel wandte sich um, erkannte das lüsterne Flackern in den Augen seines Knappen und musste an sich halten, um den Burschen nicht mit der blanken Faust niederzuschlagen.
In dem Augenblick mischte sich der Burgkaplan ein, der ebenfalls ein weitläufiger Verwandter Schwanhilds war und seine Stelle auf Kibitzstein erst vor wenigen Wochen angetreten hatte. »Der Knappe hat Recht. Gereon, zieh ihr das Kleid aus.«
Michel sah rot. Wenn das so weiterging, wäre er bald nicht mehr der Herr dieser Burg, sondern eine Marionette, die nach Schwanhilds Launen und der Anmaßung ihres Gefolges tanzen musste. Er sprang auf, trat neben den Prediger und ließ seine Hand so schwer auf dessen Schulter fallen, dass der Mann in die Knie ging.
»Wer ist hier der Herr, ich oder du? Es ist mein Wille, der hier zu geschehen hat. Wenn dir das nicht passt, kannst du die Burg heute noch verlassen und den Knappen Landulf gleich mitnehmen. Gereon, es reicht, wenn du Marieles Rücken freilegst. Es braucht niemand ihre Blöße zu sehen.«
Landulf schnaufte enttäuscht, während der Kaplan zu Michel aufsah und erschrocken feststellte, dass dessen Gesichtsausdruck nichts Gutes für seine Zukunft versprach. Dabei war er in dem festen Glauben auf diese Burg gekommen, seine Verwandte sei hier die unumschränkte Herrin. Jetzt kamen dem Prediger Zweifel, ob die Verhältnisse auf Kibitzstein seinen Vorstellungen entsprachen. Vielleicht wäre es besser für ihn, diesen Ort zu verlassen und sich mithilfe anderer Verwandter eine neue Pfründe zu suchen.
Unterdessen überprüfte Gereon noch einmal die Stricke, mit denen Marieles Arme gefesselt waren, und sprach dabei leise auf dasMädchen ein. »Es tut mir leid, Kleine, ich kann es dir nicht ersparen. Ich rate dir aber eines: Schrei bei jedem Hieb, als stecktest du am Bratspieß! Es soll niemand auf den Gedanken kommen, ich würde nicht mit aller Kraft zuschlagen.« Er trat einen Schritt zurück, nahm die bereitgelegte Rute zur Hand und holte aus. Dann klatschte der Stock hörbar auf Marieles Rücken.
Das Mädchen spürte den Hieb, doch der Schmerz war nicht stärker, als wenn sie sich unglücklich gestoßen hätte. Sie begriff, was Gereon gemeint hatte, und stieß einen Schrei aus, als habe er ihr die Knochen gebrochen. Der zweite Hieb erfolgte, dann der dritte.
Michi schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte haltlos, Michel aber starrte auf den Rücken des Mädchens, auf dem sich nun rote Striemen abzeichneten, und fühlte sich fast zwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt. Damals hatte seine Marie unter den Hieben eines gewissenlosen Schuftes leiden müssen. Obwohl er Gereon angewiesen hatte, nicht mit voller Kraft zuzuschlagen, musste er gegen den
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