Das Vermächtnis der Wanderhure
können.
»Wir können aufbrechen!« Schäfflein drängte es, die düsteren Mauern der Otternburg hinter sich zu lassen. Xander schwang sich auf sein Pferd und wollte gerade den Knechten am Tor befehlen, den Weg frei zu machen, als Beate »Halt!« rief.
»Verzeiht, aber ich muss noch rasch etwas holen.« Ohne auf die fragende Miene ihrer Herrin und den empörten Blick ihrer Schwester zu achten, lief sie die Freitreppe hoch und verschwand im Wohnturm. Nicht lange, da kehrte sie mit Frau Huldas Tochter zurück. Die Kleine war am Vortag mehrmals von Marie gestillt worden und wirkte erstaunlich lebhaft.
Die Mutter gönnte ihm nicht einmal einen Blick. »So eine Narretei! Der Balg der Magd wird so oder so sterben.«
Diese Rohheit erschütterte selbst Alke. »Verzeiht, Herrin, aber hier wissen zu viele, wessen Tochter dieses Mädchen ist, und manwürde es Euch nachtragen, wenn Ihr Euer eigenes Kind zugrunde gehen lasst. Ihr könntet Euch nach dessen Tod nicht mehr auf die Treue Eurer Leute verlassen. Gebt Ihr aber die Kleine dieser Hu… , äh, Magd mit, werden alle glauben, Ihr würdet sie als Amme benutzen, und zufrieden sein.«
Frau Hulda sah sich um und entdeckte Burgbewohner, die das Geschehen hinter Fenstern und Luken neugierig beäugten. »Ich muss dir Recht geben, Alke. Es ist besser so. Gut, dass deine Schwester daran gedacht hat.« Sie wandte sich dem Kind zu und vollführte eine Handbewegung, die den Zuschauern als Segensgeste erscheinen sollte. Dann trat sie mit einem höhnischen Zug um die Lippen zurück und hob die Hand zum Zeichen, dass Schäfflein abfahren konnte.
Der Kaufherr knallte mit der Peitsche und trieb sein Pferd an. Nun pries er es als Glück, dass sein Vater ihn gezwungen hatte, sein Gewerbe von Grund auf zu lernen und dabei auch Ochsengespanne und Pferdewagen zu kutschieren. Noch heute erinnerte er sich mit Grausen an die harte Arbeit, die er bei Wind und Wetter hatte verrichten müssen. In diesem Augenblick aber hätte er lieber das störrischste Ochsengespann gelenkt, als noch einen Atemzug länger in der Nähe dieser schrecklichen Frau zu verbringen.
Der Weg ins Tal stellte Schäffleins Kunst als Fuhrknecht auf die erste Probe. Obwohl der Wagen leicht war, vermochte der Bremsklotz ihn nicht zu halten, und so geriet der Wallach mehrmals in Gefahr, von dem Gefährt über die Kante des Steilhangs geschoben zu werden. Schäfflein zog mit aller Kraft am Bremshebel und versprach in seiner Verzweiflung dem heiligen Christophorus, dem Patron der Fuhrleute, und sämtlichen Heiligen, die er kannte, ihnen Kerzen zu weihen, wenn er diese Reise unbeschadet überstehen sollte. Zu seinem Glück begriff Xander, in welchen Schwierigkeiten der Kaufmann steckte. Er überholte den schlingernden Wagen mit einem gewagten Manöver, packtedas Zaumzeug des Zugtiers und bremste es mit dem Gewicht seines mehr als doppelt so schweren Hengstes.
»Pass besser auf! Wenn du den Karren in den Graben lenkst, so dass er zu nichts mehr zu gebrauchen ist, müsste ich dich und die Frau im nächsten Loch verscharren. Vielleicht wäre es sogar besser, denn dann brauchte ich nicht bei diesem Wetter bis zum Rhein zu reiten und mir dabei den Arsch abzufrieren.«
Zwar klang Xanders Tonfall weitaus friedlicher als seine Wortwahl, doch Schäfflein musste an sich halten, um nicht vor Angst schreiend vom Bock zu springen und davonzulaufen.
Zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen, und kurz darauf mischten sich dicke Schneeflocken unter die Tropfen. Schäfflein, der reich genug war, sich auf seinen Geschäftsreisen vor den Unbilden des Wetters schützen zu können, fror trotz des übergeworfenen Schafspelzes und verfluchte seine Neugier, die ihn zur Otternburg getrieben hatte.
Im Unterschied zu ihm ertrug Xander, der als Sohn eines mittellosen Ritters geboren war, gleichmütig Kälte und Hitze. Er war Frau Hulda dankbar für diesen Auftrag, denn ihr Vertrauen war für ihn ein Zeichen, dass die Herrin mehr auf ihn baute als auf den Hauptmann ihrer Reisigen. Xander hielt Tautacher für einen Narren, der noch einmal ein schlimmes Ende finden würde. Keinem Mann, der in die Geheimnisse der Mächtigen eingeweiht war, tat es gut, sich zu betrinken und im Rausch mit Taten zu prahlen, die im Verborgenen bleiben sollten. Während Xander seinen Umhang fester um sich schlug und sich das Wasser aus den Augen wischte, das ihm von der schlichten Stirnhaube ins Gesicht lief, überlegte er, ob er der Herrin nicht stecken sollte, dass
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