Das Vermaechtnis des Caravaggio
sie, Voyeure des Ereignisses, das
einen eigentümlichen Schrecken verbreitete. Sie bildeten das Gegengewicht zur
Hauptgruppe des Mörders mit seinem Opfer und hielten die Komposition in der
Schwebe.
Der Täufer selbst wurde in dieser
Szene nicht nur enthauptet, er wurde zugleich gedemütigt! Die Faust im Haar
drückte der Henker den Gefesselten zu Boden. Eine Geste, abgeschaut von den
Schächtern auf den Marktplätzen. Das Messer auf dem Rücken verborgen, hatte er
zuvor dem Heiligen die Kehle durchschnitten und ließ ihn jetzt ausbluten. Und
während eine Magd das Tablett hielt, auf dem der abgeschnittene Kopf serviert
werden sollte, fasste sich ein alte Dienerin mit resignierter Verzweiflung an
den Kopf, als wolle sie andeuten, dass es doch genüge, den Menschen zu töten,
und nicht auch noch wie ein Stück Vieh ausbluten zu lassen.
Nerina trat einen Schritt näher, um
sich zu vergewissern, ob das, was sie entdeckt hatte, auch der Tatsache
entsprach. Das blutige Rinnsal, das sich vom Hals auf den Boden ergoss, bildete
einen Schriftzug: F Michel A. Michele hatte sein Bild signiert! Sie roch die
Signatur geradezu. Für einen kurzen Moment glaubte sie sogar, es wäre sein
Blut, mit dem er dort unterschrieben hatte.
Am meisten erschütterte sie jedoch,
dass die Gestalt des Schächters, des Gehilfen der Salome, des Täufer-Mörders,
niemand anderen darstellte als Fra Domenico.
„Die Menschen lieben dieses Bild.“
Nerina fuhr herum und stieß einen
leisen Schrei aus. Ohne dass sie auch nur ein Kratzen gehört hätte, war jemand
hinter sie getreten. Vor ihr stand ein Johanniter, den sie zwar nicht kannte,
von dem sie aber trotzdem glaubte, ihm schon einmal begegnet zu sein. Sie wusste
nur nicht wo. Fieberhaft arbeitete ihr Gehirn. Wenn er wusste, wen er vor sich
hatte, was sollte sie tun? Gab es eine Möglichkeit der Flucht? Doch sobald der
Johanniter sie ansprach, verwarf sie den Gedanken sofort.
„Das Bild eines Ketzers. Durch und
durch. Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, dürfte es nicht in der Kathedrale
hängen. Ein Bild für den Pöbel, nicht für den Geschmack eines Mannes mit
gläubigem Verstand! Schon gar nicht für die Ritter des Heiligen Johannes.“
Nerina beruhigte sich wieder. Vor
ihr stand offenbar nur ein Priester, ein einfacher Geistlicher, der in der
Kathedrale Seelsorge betrieb.
„Warum glaubt Ihr das?“
„Was? Dass es das Bild eines
Ketzers ist? Bilder wie dieses sollen den Menschen erheben, nicht erniedrigen.
Müssen wir nicht den Kopf ebenso senken, wenn wir Johannes den Täufer
betrachten, wie die Figuren, die um ihn herum stehen. Aus Scham zumindest, wenn
nicht aus Reue.“
Dieser Auffassung konnte sie nur
zustimmen. Düsternis bestimmte das Thema, die Auffassung Micheles verdunkelte
das Licht, das gleißend hell auf den Mord fiel. Noch dazu, wie er in diesen
Johannes seine Gesichtszüge hatte einfließen lassen. Micheles eigenes Haupt lag
unter dem Messer, seinen Kopf trennte der Soldat ab, in dem Nerina Fra Domenico
erkannt hatte.
„Ich muss Euch widersprechen. Seht
Ihr nicht, dass in dem entspannten Antlitz des Johannes eine meditative Kraft
steckt? Johannes war schuldig geworden an Gottes Sohn. Er hatte ihn getauft und
damit mit dem Mal des Messias gezeichnet. Das Bild zeigt seine Verzweiflung
darüber. Es erzählt, dass der Tote in seinem Leben Schuld auf sich geladen hatte
und sie mit diesem Tod abbüßt.“ Sie legte eine Pause ein, weil ihr ein Gedanke
gekommen war, der so unmissverständlich zu ihr sprach, dass sie sich selbst
wunderte. „Selbst das Paradies ist ein Abgrund. Es gruselt einem, wenn man
hineinblickt.“
Verwundert betrachtete sie der
Priester.
„Das Paradies ist ein Ort der
Sehnsucht.“
„Das Paradies ist nur als etwas
Verlorenes zu erreichen. Dieser Verlust wird nirgendwo deutlicher als hier.“
Nerina staunte selbst über ihre
Gedanken.
„Seid Ihr ein Experte, Herr?“
Der Priester musterte sie prüfend.
„Ein Maler. Und ein Bewunderer
Michelangelo Merisis, den man auch Caravaggio nennt. Ich sah bereits Bilder aus
der Hand des Meisters in Neapel und Rom.“
Sie verschwieg, dass sie wusste,
welche Art Schuld hier getilgt werden sollte. Michele hatte den Bruder des
Johanniters getötet. In dieses Gemälde hatte er sein Bekenntnis gelegt.
Johannes wehrte sich nicht, sondern ergab sich dem Tod, den das Schicksal ihm
vorherbestimmt hatte. Er ging über die Schuld des Johannes weit hinaus.
Demütigung hieß das Schlüsselwort. Demütigung und
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