Das Vermaechtnis des Caravaggio
Kalk
geschnitten, der die Farbe der Insel aufgriff, oder weiß übertüncht und farbig
ausgemalt. Nerina staunte über die Pracht der Anlagen, bis der Junge auf einem
Platz stehen blieb. Vor ihnen erhob sich eine Kirche, deren flankierende Türme
stumpf endeten und wie abgeschnitten wirkten. Die Glocken im rechten Turm
hingen offen im Gestühl, und eben schlug es Mittagszeit und das Geläut wummerte
mächtig über die Dächer der Stadt hin. Zwei Säulen links und rechts vom
Kircheneingang, gebieterisch weiß, unschuldigen, reinen Wächtern gleich, luden
Nerina ein, den Tempel Jesu zu betreten. Eine doppelte Terrasse mit je vier
Stufen führte dazu empor. Sie zögerte.
„Hier?“
Der Junge nickte.
„Im Oratorium von San Giovanni.“
Natürlich. Michele malte ein Bild,
vielleicht sogar ein Fresko, obwohl er davon nie recht begeistert gewesen war
und eine ganze Reihe solcher Aufträge sogar abgelehnt hatte. Ihr Herz klopfte
stark. Nach gut neun Monaten würde sie Michele wiedersehen.
Sie warf dem Jungen die
versprochenen Münzen zu und hastete die Treppen empor, nahm dabei zwei Stufen
gleichzeitig und drückte dann das schwere hölzerne Portal auf.
Im Inneren blieb sie einen
Augenblick stehen, um ihre Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Maltas Licht schien
gleißend, während in der Kathedrale im ersten Moment eine bedrückende Düsternis
herrschte. Langsam schritt sie durch den Kirchenraum, lauschte verstohlen nach
den Geräuschen, die eine Arbeit an einem Fresko, an einem Ölgemälde
zwangsläufig verursachen musste. Sie fröstelte in der Kühle des Kircheninneren.
Der mit Gold verkleidete Säulenstuck, die noch offenen Flächen der Decken, die
sicherlich noch mit Fresken bedeckt werden würden, der Hochaltar mit seinen
gewaltigen silbernen Kerzenleuchtern, auf den der Blick der Eintretenden
gelenkt wurde, und schließlich die dunklen, vielfarbigen Marmorplatten des
Bodens ließen das Innere kühl und erhaben wirken. Nur die teils noch mit
wappenfarbigem Leinen verhängten Seitenkapellen, die offenbar den einzelnen
Nationen geweiht waren, in die sich Maltas Ritterschaft unterteilte, passten
nichts in Bild des Monumentalen. Aber wie alles in La Valletta befand sich die
Kirche an einzelnen Stellen noch im Ausbau.
Neugierig streifte sie umher,
konnte aber Michele nirgends entdecken. Sie glaubte nicht, dass der Junge sie
belogen und nur ihre Gutgläubigkeit ausgenutzt hatte, um Geld von ihr zu
erhalten. Dazu war er ihr zu ernsthaft erschienen. Trotzdem fand sich keine
Spur von Michele.
Nerina wollte sich schon dem
Ausgang zuwenden, als sie ihr Weg an einem Durchgang rechts vom Eingang vorüberführte.
Nerina bog ab, folgte dem Gang neugierig und stand bald im Oratorium der
Kathedrale, dem Andachtsraum der Ritter, das diese für ihre Stundengebete
aufsuchten, wie es ihr der Anblick einer Handvoll Betender mitteilte. Im
Halbdunkel erkannte sie ein Bild, dessen Lichtführung nur einer in dieser Art
bewältigte: Michelangelo Merisi! Unwillkürlich griff sie nach ihrem Amulett.
Kühl lag das silberne Röhrchen in ihrer Hand. Sofort war sie von dem Gemälde gefesselt.
Auf drei Staffeleien gleichzeitig hatte man das gewaltige Gemälde vor den Altar
gestellt. Kurz vor der Fertigstellung stand es, da nur wenige Teile
unausgeführt waren. Michele malte in situ, also vor Ort, weil die Ausmaße der
Leinwand alles überstiegen, was er je bearbeitet hatte. Sie trat langsam näher,
um Handlung, Figuren und Architektur in sich aufzunehmen. Riesig schwebte es im
Oratorium der Kathedrale San Giovanni, raumfüllend und gewaltig wie eine
Drohung. Eine Enthauptung des Johannes verdeckte den Altar, ein düsteres Bild,
ganz in Umbra gehalten, das die Architekturteile des Hintergrunds kaum sichtbar
werden ließ. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Nerina die Komposition. Ja,
das war ein Caravaggio, wie nur er ihn erschaffen konnte, ein Meisterwerk, ein
Geniestreich. Die Gruppe, die sich um Johannes den Täufer scharte, hatte er
ganz in die linke Ecke verbannt, während hinter ihr eine düstere Architektur
emporwuchs, ein aus Quadern geschichteter Torbogen, der Tiefe vermittelte, der
einen Gefängniskomplex vermuten ließ und Nerina sofort an die Engelsburg oder
die Tor di Nona in Rom gemahnte. Alles spielte sich in einem Innenhof ab. Man hatte
Johannes den Täufer herausgeführt, ihn aus der Kerkerzelle ins Licht gezerrt.
Durch ein vergittertes Fenster rechts lugten verstohlen Mitgefangene und
beobachteten das Geschehen. Zeugen waren
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