Das Vermaechtnis des Caravaggio
betrachtete darin das Bild des Mannes, der
angeblich ihr Vater war. In Situationen wie dieser wollte sie, dass er ihren
Schutz übernahm, zu ihrem persönlichen Heiligen wurde, obwohl sie ihn nie
kennengelernt hatte. Irgendwann, so hoffte sie, würde sich auch dieses
Geheimnis lösen.
Etwas in ihrem Inneren sagte sich
von dem Maler los, den sie bewundert hatte. War es seine Düsternis, seine
unbeherrschte Art oder einfach nur die Tatsache, dass sie dem körperlichen
Verfall eines Mannes beiwohnte, der noch vor wenigen Jahren ein Ausbund an
Schaffenskraft und Fantasie gewesen war? Sein letztes Bild, das sie
mitgestaltet hatte, lag weit hinter den Gemäldeideen aus Malta, Syrakus oder
Messina zurück. Oder nahm ihr die beständige Flucht, die unbestimmte Angst vor
dem Terror des Johanniters den Mut? Nein, sie entschied sich für Enrico und
gegen Michele, der an ihr als Frau ohnehin nicht interessiert war.
Den ersten Glockenschlag nahm sie
nur unterbewusst wahr. Erst beim zweiten begann sie zu zählen und wunderte sich,
dass es vier Schläge waren. Sie schreckte aus ihren Überlegungen auf, zog ihre
Schuhe aus und langte zur Bootswand der Diana hinüber. Das Holz fühlte sich
feucht und glitschig an. Mit einem stillen Seufzer hielt sie sich an einem der
Vorsprünge fest und zog sich hinauf. Gerade rechtzeitig, um die Stimmen zu
vernehmen. Enrico hatte das Schiff bestiegen. Vorsichtig stieg sie höher. Jetzt
zeigte die Fischerkleidung, die sie zuvor verflucht hatte, weil sie kaum warm
hielt, ihre Vorteile. Sie ließ ihr ausreichend Bewegungsfreiheit, um die
Bordwand zu erklimmen. Vorsichtig spähte sie über die Reling – beide Wachen
konzentrierten sich auf einen Franziskaner, hielten ihn in Schach und kümmerten
sich nicht um den Rest des Schiffes. Nerina zog sich hoch, stieg lautlos wie
eine Katze über die Brüstung, sackte sofort in sich zusammen und lief, im
Schutz von Taurollen und Hebevorrichtungen, auf einen der Bretterverschläge zu.
Drei davon erhoben sich auf dem rückwärtigen Deck, nur wenige Schritte von
Nerinas Aufstieg entfernt. In einem davon, so hatten sie gestern noch vermutet,
musste sich Michele befinden, wenn der Bauch des Schiffes mit Kalksteinen
beladen war.
Sie schlich das Deck entlang, immer
im Schatten der Holzverschläge, und lauschte nach innen, ob sie irgendwo das
Atmen oder Keuchen Micheles hören konnte. Aber die Wachen und Enrico
unterhielten sich so laut miteinander, dass es ihr unmöglich war, ein leises
Geräusch zu vernehmen. Barfuß schlich sie weiter.
Jeder Raum besaß zwei Türen, an
jeder Bordseite eine. Kaum hatte Nerina die erste Tür passiert, als diese von
innen aufgestoßen wurde. Mit einem Satz sprang sie in die Lücke zwischen zwei
der Hütten, konnte sich aber nicht ganz darin verbergen. Sie sah einen Mann aus
dem Raum treten, der sich in seinem ganzen Benehmen und an der Kleidung
sichtbar als Kapitän erwies. Noch stand sie in seinem Rücken. Aber wenn er die
Tür schloss und sich umdrehte, musste er sie erkennen. Nerina betete, dass dies
nicht geschehen möge, und tatsächlich erhörte sie der Himmel. Ohne die Tür zu
schließen, lief der Kapitän zur diskutierenden Gruppe im Bereich des
Vorderdecks.
Jetzt erst bemerkte sie, dass ihre
Kehle vollständig ausgetrocknet war und ihr das Schlucken schwer fiel. Aber
viel Zeit blieb ihr nicht, darüber nachzudenken. Sie schlich zur offenen Tür,
spähte in den Raum – und sah nichts. Michele musste sich in einem der anderen
Räume befinden.
Noch während die Männer um Enrico
lautstark weiterredeten und das Wort „Johanniter“ fiel, das eine selbst für
Nerina spürbare Spannung erzeugte, trat sie zur nächsten Tür. Bei ihr war von
außen ein Riegel vorgeschoben. Sie zog diesen beiseite, öffnete vorsichtig und
spähte hinein. Mindestens zwei Männer, zwei weitere Wachen nämlich, mussten
sich auf dem Schiff befinden. Ein vertrauter Geruch empfing sie, der ihr sofort
das Blut in den Adern gefrieren ließ. So roch nur ein Mensch, den sie kannte:
Fra Domenico. Der Raum enthielt ein Bett, einen Tisch sowie einen Stuhl. Nichts
weiter. Nerina wollte den Verschlag bereits wieder verlassen, als sich im Bett
vor ihr etwas bewegte. Hatte Fra Domenico den Luftzug bemerkt, die Kälte
vielleicht, die mit der geöffneten Tür in den Raum strömte? Ein Stöhnen ließ
sie aufmerken. Das war nicht Fra Domenico. So bewegte und stöhnte nur ein
Mensch, den sie kannte: Michele. Deshalb war der Raum verschlossen gewesen!
Rasch
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