Das Vermaechtnis des Caravaggio
Bis auf einen Papierfetzen, der in der Ecke
vergammelte und vor lauter Farbspritzern ganz braun verfärbt war, gähnte ihr
eine vollständige Leere entgegen. Inmitten dieser Leere stand mit dem Rücken zu
ihr niemand anderer als Pater Leonardus.
„Wo ist Michele?“
Langsam drehte sich der Pater zu
ihnen um, breitete die Arme aus und deutete um sich.
„Wo ist das Bild?“
Zuerst stutzte Nerina. Was sollte
die Frage? Wütend wollte sie ihm etwas erwidern, bekam sich dann aber in den
Griff. Verächtlich musterte sie den Pater.
„Ihr seid ein ausgezeichneter
Schwimmer, Pater.“
Sofort duckte sich dieser wie ein
geprügelter Hund. Hinter Ihr hörte sie Enrico ins Atelierzimmer treten, seine
Schritte hallten von den Wänden wider.
„Lassen wir die Vergangenheit
schweigen, Nerina. Jeder macht Fehler, aber kaum jemand macht denselben Fehler
doppelt. Wo ist das Bild?“
Etwas Kriecherisches lag in dieser
Stimme. Das machte sie wütend.
„Ich weiß es nicht“, fuhr sie ihn
an.
Enrico umrundete den Pater und sah
sich um.
In Nerina stieg eine Unruhe auf.
Was war geschehen? Wo war Michele? Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern,
wann sie ihn zuletzt gesehen hatte. Es musste vor drei Tagen gewesen sein. Mit
Enrico war sie Arm in Arm durch den Park spaziert und hatte ihn zuerst schreien
gehört und dann am Fenster stehen sehen. Vor ihm eines seiner Modelle, das er
an den Haaren gepackt hielt und hin und her zog. Enrico hatte einschreiten
wollen, aber Nerina hatte ihn zurückgehalten. Sie könne sich wehren, hatte sie
ihm bedeutet, wenn es ihr zu viel werde, und tatsächlich hatte Michele kurze
Zeit später nach Luft ringend an der Fensterbrüstung gelehnt und sich den
Unterleib gehalten. Jeder, so hatte sie damals gesagt, müsse damit seine
eigenen Erfahrungen machen. Seither war er ihr nicht mehr unter die Augen
geraten. In der Zwischenzeit musste er verschwunden sein. Aber weder die
Marchesa noch einer der Diener hatten sie davon benachrichtigt.
Über Pater Leonardus’ Gesicht
huschte ein spitzes Grinsen. Es machte sie schier verrückt. Aber im Augenblick
schien der Pater tatsächlich im Vorteil zu sein. Offensichtlich wusste er mehr
über Michele als sie.
„Ihr Turteltäubchen wollt doch
nicht andeuten, dass Ihr von Micheles Auszug nichts weiter als Gerüchte gehört
habt, obwohl Ihr neben dem Atelier schlaft?“
Nerina sah Enrico bestürzt an.
„Wir haben nicht einmal Gerüchte
gehört“, versicherte Enrico.
„Wo ist er hin?“
Pater Leonardus schlug sich auf die
Schenkel und lachte.
„Ihr seid mir ein Paar. So verliebt
ineinander, dass ihr selbst Ohren und Augen für das verschließt, was um Euch
herum geschieht. Der Herr, unser Gott, hätte sein Wohlgefallen daran, wenn es
zur Zeugung von Nachkommen dient. Aber alle Bilder sind in Kisten eingepackt
und abtransportiert worden. Je drei Bilder in einer Kiste, und mindestens vier
Kisten waren es.“
„Und Ihr habt davon gewusst?“
Wieder fuhr ein breites Grinsen
durch das Gesicht des Paters, als er Nerina betrachtete.
„Habt Ihr geglaubt, nur weil Ihr
mir das Schwimmen gelehrt habt, verschwinde ich von der Bildfläche? Träumer!“
Enrico wäre beinahe auf den Pater
losgegangen. Sein Arm zuckte bereits nach dem Degen. Der lag jedoch noch in
seinem Zimmer. Dennoch hätte er ihn mit bloßen Fäusten angegriffen, wenn ihn Nerina
nicht am Arm festgehalten hätte.
„So habt Ihr Michele geholfen?“
„Wo denkt Ihr hin, werte Nerina?
Meine Aufgabe war es, ihm den Brief von Scipione Borghese zu überbringen.“
„Der Brief! Wir haben Michele nicht
gefragt, von wem er kommt.“
„Er hatte das päpstliche Siegel,
Enrico. Das hat Michele jedenfalls gesagt.“
„Ihr beide verblüfft mich. Das
Siegel Scipione Borgheses enthielt er, und Michele verwechselte es vermutlich
mit dem päpstlichen.“
„Was stand in dem Brief?“
„Wo ist das Bild? Ich habe schon
einmal gefragt. Wenn Ihr Unschuldslämmer mir das erzählt, sage ich Euch, wo sich
der Brief befindet!“
„Welches meint Ihr?“ Noch immer
konnte sich Nerina nicht recht vorstellen, wonach der Pater suchte.
„Das Haupt des Johannes!“
Schon wollte Nerina mit den
Schultern zucken, aber da fiel ihr ein, was Michele über das Bild gesagt hatte.
Es sei seine Lebensversicherung, weil die Personen, die ihn verfolgten, darauf
abgebildet seien: der Pater, der Johanniter und seine Schwester Caterina, wenn
sie Enrico glauben durfte. Solch ein Bild gab er nicht aus der Hand.
„Er
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