Das Vermaechtnis des Caravaggio
war auch schon hier. Auf der Piazza Colonna
unter der Marc-Aurel-Säule habe ich ihn gefunden. Übel zugerichtet.“ Wieder
strich Enrico Nerina übers Haar und sie schloss die Augen, um die Berührung zu
genießen. „Es muss jemand gewesen sein, der ihm ganz bewusst auflauerte. Seine
Geldkatze ist ebenfalls verschwunden. Es kann ein Überfall ohne jeden
Hintergedanken gewesen sein – aber ich glaube nicht daran.“
„Warum?“
„Er kann sich an nichts erinnern.
Unmöglich, schließlich hat er ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und wenn er als
Maler einmal ein Gesicht gesehen hat, vergisst er es so schnell nicht.“
„Du meinst also, er will sich nicht
erinnern?“
Nerina presste die Lippen zusammen.
Enrico sprach das aus, was sie dachte.
„Omertà!“, meinte Enrico.
„Vielleicht gehorcht er der Schweigepflicht! Ein Gauner deckt den anderen“,
setzte er hinzu und flüsterte dabei. Seine Lippen näherten sich Nerinas
Ohrläppchen, und ehe sie sich versah, hatte er ihr einen leichten Kuss darauf
gegeben. Zuerst lachte sie, dann wurde sie ernst. Was dachte sich der Kerl?
Erst verschwand er beinahe zwei Monate aus Rom, ohne eine Nachricht zu
hinterlassen, und dann wollte er Schäferspielchen treiben.
„Wo warst du?“
Mit ausgebreiteten Armen lehnte
sich Enrico auf der Chaiselongue zurück und dehnte sich.
„Eine lange Geschichte.“
„Erzähl sie mir, wir haben Zeit“,
konterte Nerina. „Michele wird noch mindestens zwei Wochen im Bett bleiben
müssen.“ Sie sah, dass sich Enrico zierte, ihr über seine Abwesenheit zu erzählen,
und wusste nicht recht, warum. „Verbirgst du etwas vor mir?“
„Nerina“, begann Enrico, und beugte
sich nach vorne. „Was ich jetzt erzähle, muss unter uns bleiben. Wenn
irgendjemand davon erfährt, ist Micheles Zukunft in Rom gefährdet, weit
gefährdeter, als durch seinen wankelmütigen Charakter.“
Mit einer Neugier, die sie kaum
bezähmen konnte, versprach sie Enrico, alles für sich zu behalten.
„Ich habe mich in den letzten
Monaten in Caravaggio und Mailand aufgehalten, um Micheles Vergangenheit
kennenzulernen. Dabei bin ich interessanten Geschichten begegnet. Hat Michele
davon erzählt, dass er Geschwister hat?“
Nerina sah Enrico lange an.
„Geschwister hat er immer
abgestritten, er sei das einzige Kind seiner Eltern.“
Unmutig stieß Enrico Luft durch die
Nase.
„Er hat zumindest noch eine
Schwester, Caterina Merisi! Und der jüngere Bruder ist, wenn ich das recht
verstanden habe, in eine geistliche Laufbahn eingetreten. Peterzano, der alte
Lehrmeister Micheles, erzählte mir, er sei damals, 1592, als sich die Geschwister
Merisi der Erbstreitigkeiten wegen getrennt hätten, nach Brasilien gegangen,
als Missionar.“
Nerina konnte es kaum glauben.
„Erbstreitigkeiten?“
„Ja, die Geschwister Merisi erbten
von der Mutter 1590 Grundstücke und Barvermögen. Sie mussten in den nächsten
Jahren in Caravaggio und Mailand einiges davon verkaufen, um Schulden zu
begleichen, und ich glaube, die Schulden stammten vor allem von Michele.
Deshalb sind die Geschwister zerstritten. Die jüngeren waren verärgert, weil
Michele so viel vom mütterlichen Erbe verbrauchte, und Michele tobte, weil der
jüngste Bruder den Löwenanteil vom übrig gebliebenen Grund und Boden erhielt
und ihn die Schwester unterstützte. Seinen Anteil veräußerte Michele sofort und
ging damit nach Rom. Hier wohnte er eine Zeit bei seinem Oheim Ludovico, einem
Priester. Zuerst lebte er vom Erbe, dann, nachdem es verbraucht war, von der
Hand in den Mund, hauste bei verschiedenen Geistlichen und kleinen Schmierern
und schlug sich als Köpfemaler durch, aber das wissen wir ja: Drei Köpfe pro
Tag, gerade ausreichend Geld, um nicht zu verhungern – und zu verdursten.“
Nerina schüttelte immer nur den
Kopf, stand auf und ging umher. Sie wollte nicht verstehen, warum Michele sie
angelogen hatte. Oder hasste er seine Geschwister derart, dass er sie nicht
mehr kennen wollte? Und wenn das der Fall war, warum? Gab es dafür einen Grund?
„Wie heißt sein Bruder, Enrico?“
„Giovan Battista. Kennst du ihn?
Hast du den Namen schon einmal gehört?“
„Nein, noch nie.“
Enrico fasste Nerinas Hand, als sie
an ihm vorüberging, und zog sie näher. Widerwillig trat sie einen Schritt auf
ihn zu. Von unten sah er zu ihr hoch, und sie fühlte ein eigenartiges Kribbeln
im Bauch, das sie so nicht zulassen wollte. Nicht jetzt. Enrico führte ihre
Handfläche an seine Lippen und küsste
Weitere Kostenlose Bücher