Das Vermaechtnis des Caravaggio
sie. Nerina spürte rau die spröde Haut
seiner Lippen darin. Leicht nur kribbelten sie, aber es war, als würde sie mit
feinen Nadeln traktiert und schloss die Augen. Dann zog sie ihre Hand weg und
trat zurück.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass
du weggehst?“
Mit einem Seufzer stand Enrico auf.
Immer darauf bedacht, einen Abstand zwischen ihr und ihm zu lassen, begann
Nerina durchs Atelier zu wandern.
„Wenn ich es dir mitgeteilt hätte,
dann wüsste möglicherweise ganz Rom davon!“
„Oh, danke!“, entfuhr es Nerina
spöttischer, als sie es vorgehabt hatte. „Heißt das, ich bin ein Klatschmaul?“
„Nein, Nerina. Versteh mich bitte
nicht falsch. Ich musste es einfach geheim halten, sonst wäre mir
möglicherweise jemand gefolgt. Schließlich wirst du beobachtet.“
Nerina grübelte. Ganz konnte sie
Enricos Erklärung nicht akzeptieren, aber ihr schien ein Körnchen Wahrheit
darin zu liegen. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und sah Enrico an.
„Michele hat Geld bekommen, von
einem Mönch, und eben dieses Geld wurde ihm wieder gestohlen!“
„Kennst du den Mönch?“
„Nein. Aber mir ist aufgefallen, dass
es nicht immer derselbe Mönch ist.“
Konzentriert sah ihr Enrico ins
Gesicht und blickte doch durch sie hindurch. Nerina ärgerte sich etwas, weil
Enrico scheinbar das Interesse an ihr völlig verloren hatte. Ein wenig heftiger
sollte er schon um sie werben.
„Hat sie etwas mit den Überfällen
zu tun, Nerina? Wenn der letzte Mönch sein Geld zurückhaben will, könnte ich
mir vorstellen, dass er in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich ist.“
„Nein“, entgegnete Nerina und
fühlte, wie sie verlegen wurde. „Er hat nur eine weitere Anzahlung geleistet.
Nur so konnte ich die Miete hier vorstrecken und Farben und Leinwände kaufen.“
Den Gedanken wurde er nicht los, dass
alle Ereignisse mit der Papstwahl zu tun hatten, und mit der Tatsache, dass
Scipione Borghese zum Kardinal ernannt worden war, denn seither überstürzten
sich die Ereignisse und gestalteten sich immer undurchsichtiger. Wieder schritt
Enrico durch das Atelier und tat jetzt das, was er zu Beginn versäumt hatte,
sich gründlich umzusehen. Ganz in der Ecke stand eine Leinwand. Als er auf sie
zuging, schnitt ihm Nerina den Weg ab. Sanft fasste er sie an den Armen und
drängte sie beiseite.
„Michele arbeitet daran nur wenige
Minuten am Tag. Sobald er aufstehen kann.“
Ein helles Tuch war darüber geworfen.
Mit einem Ruck hob Enrico es hoch und besah sich das Bild darunter.
Ein Kopf prangte inmitten der
dunklen Grundierung, dessen abschreckender Ausdruck Enrico sofort veranlasste,
das Tuch wieder darüberzulegen. Vom Körper abgetrennt, lag unfertig, nicht ausgearbeitet,
aber dennoch bereits deutlich zu erkennen, auf einem nur angedeuteten Tablett
der Kopf Micheles, als würde er serviert, blass, blutleer, starr, mit
gebrochenen Augen und halboffenem Mund, als wolle er schreien.
„Das Haupt des Johannes!“, flüsterte
Nerina. „Er wollte unbedingt mit diesem Bild beginnen.“
21.
„Wie konntet Ihr meinen Wunsch,
meinen Befehl missachten? Dieser Caravaggio ist ein einziger Unruheherd und ein
beständiges Ärgernis. Keines seiner Bilder atmet den religiösen Geist unserer
Zeit, alle speien diesen reformatorischen Feuerhauch, der unsere Kirche
zerreißt und einen Krieg nach dem anderen gebiert.“
Mit langen Schritten tobte Camillo
Borghese vor Scipione her durch einen der grünen Innenhöfe des Vatikanpalastes,
weiß wie eine aufgescheuchte Gans, und in dieser aufgebrachten,
kleinkrämerischen Stimmung schwand für Scipione Borghese, der im
Kardinalspurpur vor seinem Oheim erschienen war, der Papst zu einem alten Mann,
der um das Ansehen einer morschen Institution besorgt war.
„Ihr irrt, Eure Heiligkeit“,
schmunzelte Scipione ob seiner kühnen Formulierung. „Gerade Caravaggios Bilder
atmen den Geist unserer Zeit in besonderem Maße. Allein die Madonna dei Palafrenieri,
eine Anna Selbdritt-Darstellung, auf der Maria, Anna und das Christuskind zu
sehen sind, beweist, dass er auf dem Weg des rechten Glaubens wandelt. Hat
nicht Papst Paul III. in der Bulle „Licet ab initio“ selbst bestimmt, dass
Maria und das Christuskind das Haupt der Schlange, als Sinnbild des Bösen,
gemeinsam zertreten, und hat nicht Caravaggio eben dies dargestellt und sich
damit eindeutig gegen die Häresie dieses Augustinermönchs Luther gestellt?“
„Oh, Ihr nehmt diesen Schmierfinken
auch noch in Schutz.
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