Das Vermaechtnis des Caravaggio
auf dem Kopf stehend. Es schien mir ein Wunder zu sein, und ich
konnte nicht oft genug den Kasten betreten und mir dieses Schauspiel
betrachten.“
Michele schluckte plötzlich und
Nerina sah, dass er sich auf die Lippe biss, als würde ihn eine unangenehme
Erinnerung packen und mit sich fortreißen.
„Was ist?“, tastete sie sich
behutsam vor, aber Michele sprang plötzlich auf, wischte sich mit der Hand über
die Stirn, als müsse er die Gedanken fortscheuchen, die sich dort eingenistet
hatten. Mit Schwung warf er seine Palette in die Ecke und stürzte zur Tür.
Rasch nahm er seinen Umhang vom Haken, stülpte sich den Hut über, und bevor
Nerina noch richtig begriff, was Michele vorhatte, polterte er zur Tür hinaus,
Nero ihm direkt auf den Fersen.
Nerina versuchte, ihre Verblüffung
zu beherrschen. Michele hatte eben Korrekturen am Haupt des Johannes
angebracht, dem er immer eindeutiger seine eigenen Gesichtszüge mitgab. Wohin
Michele wollte, ahnte sie. Unschlüssig war sie nur, ob sie ihm in die Osteria
folgen sollte. Sie warf sich das Tuch über die Schulter, in dessen Feuchtigkeit
noch Micheles Haargeruch hing, der sie jetzt regelrecht überfiel. Langsam schlurfte
sie in ihr Zimmer hinüber und setzte sich an ihre eigene Staffelei. Nein, sie würde
ihm Zeit geben, sie würde ihm die Möglichkeit geben, einen Krug zu leeren. Dann
aber wollte sie zu ihm hinunter und ihn fragen. In dieser Camera obscura schien
etwas geschehen zu sein, das ihn verstört hatte. Und sie wollte es wissen.
12.
Aus Nerinas Perspektive zwängten
sich durch die Gassen Neapels keine Menschen, sondern Ameisen, obwohl auch
dieser Vergleich hinkte, denn die Tiere kannten den Müßiggang nicht, der
zwischen den Mauern, in den Gassenschluchten der Altstadt, so satt blühte wie
ein Frühlingsbeet. Überall lagen die zerlumpten, nur von der Hand in den Mund
lebenden Lazzari an den Hauswänden, vertrieben sich mit Würfelspiel oder Schlaf
die Zeit und gingen gelegentlich in kleinen Gruppen auf Raub aus. Dabei
vermieden sie es sorgfältig, Einheimische zu bestehlen, denn diese hätten sie
ohne Zögern an die ungeliebte Obrigkeit der Stadt ausgeliefert. Beliebtestes
Ziel bildeten die Fremden, die sich dem Neapolitaner durch ihr staunendes
Streifen, ihre kopfschüttelnden Blicke, und vor allem durch ihre Gebärdenarmut
sofort zu erkennen gaben.
Zwei Hände reckten sich Nerina
entgegen, um ihre Aufmerksamkeit zu fordern, dann fuhren die Finger der Frau an
die Lippen. Sie hielt fünf Finger ihrer rechten Hand an den Mund und
durchschnitt mit der flachen Hand horizontal die Luft. Sie hungere, gab sie ihr
zu verstehen, und Nerina brach vom Brot, das sie in ihrem Einkaufskorb trug,
ein Stück ab und reichte es ihr. Sie wusste, dass diese Art, eine Kleinigkeit
zu essen wegzugeben, sie gleichzeitig davor schützte, weiter belästigt zu
werden. Wer die Zeichensprache der Lazzari verstand, gehörte in die Stadt.
Jeden weiteren Versuch, angebettelt zu werden, würde sie jetzt mit einem
Schütteln der rechten Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger beantworten. Eine
strikte Verneinung, die einzige, die Neapels Lazzari verstanden und
respektierten.
Mit einiger Scheu überquerte sie
die Piazza del Mercato. Am westlichen Ausgang saß ein Erzähler, der mit lauter,
über den Platz hin hallender Stimme und großen Gebärden die tragische
Geschichte Konradins erzählte, des letzten Staufers. Auf diesem Platz war 1268
sein Haupt gefallen und das Geschlecht der Staufer mit dem 16jährigen Spross
erloschen.
Kurz hinter der Piazza bog sie
Richtung Hafen ab und schlüpfte in die Gasse, in der sich ihr Atelier verbarg.
Nur ein schmaler Streifen Licht stach noch bis hinunter auf den Weg und teilte
sie in eine helle und eine düstere Hälfte. Sie ließ sich von der Sonne
bescheinen und genoss die Frühlingswärme, die von dem Lichtfinger ausstrahlte.
Zuerst schloss sie genießerisch die
Augen, dann ließ sie bereits gewohnheitsmäßig den Blick die Fassaden entlang
gleiten und musterte die Häuserfront und die Fenster im vierten Stock auf
Veränderungen. Die hämmernde Musik der Handwerker, die vor ihren Werkstätten
hockten und arbeiteten, klang wie sonst, niemand drückte sich in die Winkel der
Hauseingänge, den sie nicht kannte, und die Fenster zum Atelier ... Für einen
Augenblick hielt sie inne. Hatte sie vergessen, den Laden zu schließen? Nein.
Seit ihrer Flucht aus Rom pflegte sie ein Verhalten, das sie und Michele schon
einmal vor einer Verhaftung
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