Das Vermaechtnis des Caravaggio
eingezogen, und begann Micheles
kraftlos am Körper herabhängende Hand zu lecken. Ganz langsam kam Bewegung in
diese Hand, in den ganzen Arm, und es war, als würde von dort aus zögernd, aber
mächtig wieder Kraft in den Körper zurückfließen. Nero winselte.
„Messer Caravaggio. Eine Frage!“
Nerina erkannte Battistello
Caracciolo, einen der begabteren Schüler, der sich eifrig bemühte und auf dem
manches Mal Micheles Blick gefällig ruhte.
„Ihr malt ... in letzter Zeit nur
noch Märtyrerszenen. Warum?“
Langsam öffnete Michele die Augen,
und Nerina konnte den Ausdruck, der sich unter sein erschöpft wirkendes Gesicht
mischte wie Wasser unter Wein, nicht recht deuten. Beinahe unhörbar antwortete
er, während seine Hand begann, mit Neros Schnauze zu spielen.
„Weil es Menschen aus Fleisch und
Blut gewesen sind, die für eine Überzeugung starben! Ich male sie im Moment
ihres Leides, erst dann, Battistello, dann nämlich erscheint im Profanen, im
ganz und gar Natürlichen, das Einzigartige, das Göttliche. In solchen
Augenblicken speichern es die Körper, wie der Stein die Wärme der Sonne
speichert. Im Moment ihres intensivsten Glaubens werden die Menschen
durchscheinend wie Kristall oder Wasser – und dann sind sie wahrhaftig.“
Viel verstand Nerina nicht von der
religiösen Haarspalterei, die Michele hier auftischte, sie wusste aber, dass
die Kirche seit dem Tridentinischen Konzil sehr darauf bedacht war,
Laieninterpretationen religiöser Szenen zu unterbinden und die überschäumende Fantasie
der Künstler wieder an die Leine zu legen. Abendmahlsfeiern, in denen statt der
Apostelfiguren die Auftraggeber als Vorlage dienten, wurden verdammt. Eine
unmittelbare Aneignung der Heiligen durch die Laien hätte die Kirche
möglicherweise überflüssig werden lassen, wie es die neue Glaubensrichtung Luthers
vorlebte. Insofern bedeutete Micheles Haltung Ketzerei. Und Ketzerei bedeutete
wiederum den sicheren Scheiterhaufen eines spanischen Autodafés.
„Michele, lass es gut sein für
heute“, griff Nerina ein.
Michele sah sie an, als würde er
sie zu ersten Mal erblicken. Zwei Schritte lief er in den Raum hinein, dann
stolperte er über den Fuß einer Staffelei.
„Ich brauche keinen Vermittler!“, schrie
er plötzlich. „Ich weiß, warum ich so male und nicht anders.“
Erschrocken erhoben sich die
bislang stumm dasitzenden Schüler und packten ihre Sachen. Sie kannten ihren
Messer Caravaggio mittlerweile gut genug, um Nerinas Bemerkung richtig
aufzunehmen. Michele musste schlafen. Für einen Augenblick warf Michele den
Kopf hin und her und beobachtete das Treiben misstrauisch, das jetzt im Atelier
einsetzte, dann aber begann er sich damit abzufinden und wühlte sich durch die
Aufbrechenden hindurch zu seiner Staffelei. Ohne auf die „Ciao“-Rufe zu
reagieren, setzte er sich auf seinen Stuhl, nahm die Palette auf und begann seine
Pigmente zu mischen.
Nerina stellte sich hinter ihn, als
der letzte gegangen war. Mit einem Tuch trocknete sie ihm Hals und Stirn ab.
Als wären sie ein altes Ehepaar, das sich über diese einfachen Handhabungen
noch immer ihre Zärtlichkeit und Liebe beweist, ließ er es geschehen.
„Licht und Schatten sind die
Elemente, aus denen unser Leben aufgebaut ist!“, begann er unvermittelt, und
Nerina hielt mit dem Haartrocknen inne, da sie seine Stimme sonst nicht hätte
hören können, so leise sprach er, beinahe nur wie zu sich selbst. Sie wusste
aber sofort, dass er sie damit meinte. „Die Körper wirken nicht nur plastischer
dadurch, Hell und Dunkel haben Kraft, sie fördern die Angst vor dem Unbekannten
im Schatten und lassen das Herz leuchten durch das Sichtbare im Licht. Hast du
jemals eine Camera obscura gesehen, Nerina? Nein? Bei Kardinal Del Monte bin
ich ihr begegnet. Sie hatten einen Holzverschlag aufgebaut und innen gänzlich
schwarz verkleidet, bis auf die Rückseite. Man konnte ihn betreten, stand aber
in völliger Finsternis. Gegenüber der weißen Wand jedoch hatte der trickreiche
Erfinder eine Öffnung eingelassen, kaum den Durchmesser eines kleinen Fingers
groß. Und jetzt geschah das Wunderbare, Nerina. Hat man die Szenerie vor dem
Kasten mit Kerzenlicht oder gar mit der Helligkeit der Sonne beleuchtet, dann
ist auf der rückwärtigen Seite des Kastens, genau gegenüber der kleinen
Öffnung, ein Bild erschienen, das die Welt wiedergegeben hat, grob gezeichnet
zwar, aber konturenreich und – wie eine Ironie, ein Gelächter aus Licht und
Schatten –
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