Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
erfuhr, wer die Verräter waren, würde er keine Gnade walten und einige Köpfe rollen lassen. Wenn er jedoch scheiterte, würden seine Feinde von seiner Allianz mit den Christen profitieren, die von vielen für Blasphemie gehalten werden würde. Dann würde sein Kopf rollen …
»Heute wird es das Tote Meer genannt, Exzellenz«, antwortete Gua Li. »Aber zur Zeit von Jesus wurde es wegen seines Reichtums an Bitumen Asphaltsee genannt.«
Befriedigt lächelte Bayezid und nickte bestätigend in Ada Tas Richtung, der leicht den Kopf neigte. Gua Li fuhr mit ihrer Erzählung fort.
… Am folgenden Morgen kamen sie am Fuße des Berges Nebo an. Mit Brot und Ziegenkäse stillten sie ihren Hunger, und am Nachmittag machten sie sich an den Aufstieg. Für Jesus waren die eintausenddreihundert Ellen Aufstieg bis zur Bergspitze wie ein Spaziergang im Vergleich zu den unwegsameren und steileren Wegen, die sie im Norden Indiens gegangen waren. Judas hingegen, der normalerweise mit den Ziegen auf den Weiden umherstreifte, erreichte die Spitze deutlich später als sein Bruder. Er schnaufte und schimpfte vor sich hin.
»Kannst du mir erklären, warum du einfach davongelaufen bist?«
»Ich habe Angst zu scheitern, Judas. Die Menschen scheinen nicht zu verstehen, was ich sage. Sie hören mir zu und gehen verwirrter von dannen, als sie gekommen waren. Ich sehe es ihnen an. Ich wünschte mir, sie würden verstehen, wie es ist, unterdrückt zu werden und sich verstecken zu müssen, ohne rebellieren zu können. Auch der Sanhedrin ist Opfer und Täter zugleich. Er trifft Abkommen mit Rom und will dann im Nachhinein auch noch die Zustimmung des Volkes. Mir wurde beigebracht, dass man nur auf einer Seite stehen kann: entweder auf der Seite des Volkes oder der des Königs; es gibt keinen Mittelweg. Ich weiß aber auch, dass Friede und Verstehen nicht mit Waffengewalt erlangt werden können, sondern nur durch eine Revolution des Bewusstseins. Ansonsten übte man Rache, aber nicht Gerechtigkeit. Das ist eines der wichtigsten Prinzipien Buddhas.«
»Also, von diesem Gott da …«
»Nein Judas, vergiss Buddha, vergiss Gott. Das sind meine Worte, allein: Ich werde nicht verstanden. Die Essenz des Geistes findet sich nicht in Gott, so wie die Menschen ihn sehen – als himmlisches Lebewesen, das über den Wolken wohnt! Der Geist wohnt in jedem Menschen. Der Geist ist etwas, das den Menschen durchdringt. Er ist Energie; er ist Natur. Und er äußert sich durch die guten Taten und das richtige Verhalten des Menschen.«
»Willst du damit sagen, dass Gott in jedem Einzelnen von uns wohnt?«
Jesus seufzte, setzte sich auf einen Felsen und begann ihn mit einem Stein zu bearbeiten. Eine Schlange mit einem dreieckigen Kopf und zwei vorstehenden Hornwülsten über den Augen kroch unter dem Fels hervor und schlängelte sich davon.
»Eine Giftschlange!«
Jesus lächelte.
»Du bist ein sehr guter Beobachter …«
»Hattest du sie bereits vor mir gesehen?«
»Nein, aber du kannst eine Sache kennen, auch wenn du sie nicht siehst – solange du weißt, wo sie sich befindet.«
»Was willst du mir damit sagen? Du hast immer eine so eigenartige Art, dich auszudrücken.«
»Ich benutze Beispiele, um den Menschen verständlich zu machen, was ich ihnen sagen möchte, aber wie man an dir sieht, reicht das wohl nicht. Ich will sagen, dass es etwas in unserem Inneren gibt, das über unsere körperliche Hülle hinausgeht, auch wenn es noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Wir haben immer wieder den Fehler begangen, Gott oder etwas Höheres außerhalb unserer körperlichen Hülle zu suchen. Darum schaffte sich unser Volk einen Gott nach unserem Ebenbild – und die anderen Völker machten es genauso.«
Judas zog die Augenbrauen hoch und kreuzte die Arme vor der Brust.
»Die Thora behauptet genau das Gegenteil …«
»Ja, in der Tat, das tut sie. Und genau das will ich den Menschen verständlich machen: Wir müssen unsere Gedanken auf den Kopf stellen. Nur so können die Menschen anerkennen, dass sie alle gleich sind. Sonst sucht jeder in seinem Gott die alleinige Wahrheit und denkt von den anderen, dass sie falsch liegen.«
Jesus warf einen Stein nach der Schlange, worauf sie zurückgekrochen kam. Er bückte sich, griff nach ihr, und vor den Augen eines bestürzten Judas verwandelte sie sich in einen Stock, auf dem sich Jesus abstützte, als er sich erhob.
»Du … aber … wie hast du das gemacht?«
»Das ist ein einfaches Kunststück.« Jesus
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