Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
erzählen konnte – aber nicht lang genug für den Sultan, um sie zu verführen. Denn Ada Ta wusste von Gua Li um die Bedeutung der körperlichen Liebe für den Sultan – einige Male hatte Gua Li den Geruch der Lust an der Haut des Sultans riechen können. Ein Duft, der unter all den anderen Gerüchen am einfachsten zu erkennen war: eine Mischung aus süß und salzig, durchdringend wie Pferdeschweiß. Und Ada Ta wusste auch, dass Gua Li mit ihrer makellosen Haut, dem perfekten Oval ihres Gesichts, den dunklen Augen, die wie Obsidiane schimmerten, und mit ihrem geschmeidigen Körper sich mit den schönsten jungen Frauen des Harems messen konnte. Mehr als ihre körperliche Schönheit begeisterten den Sultan jedoch Gua Lis Intelligenz und ihre Lebhaftigkeit. Um zu verhindern, dass Bayezid amouröse Vertraulichkeiten einfädeln konnte, war es also kein Zufall, dass Ada Ta scheinbar zufällig im richtigen Moment abwesend oder anwesend war. Natürlich hätte sich der Sultan jederzeit mit Gewalt nehmen können, was er wollte. Doch Ada Ta vertraute auf die Wissbegier des Herrschers, die Geschichte fertig anzuhören und zu erfahren, wie es dem vorletzten Propheten am Ende ergangen war.
Niemand hatte in den letzten fünfzehn Jahrhunderten darüber nachgedacht, was wirklich mit Jesus in der Zeit zwischen seiner Kindheit und dem Erwachsenenalter geschehen war – nicht die Christen, nicht die Juden und auch nicht die Muselmanen. Die einzige Ausnahme war ein italienischer Graf, der seine Wissbegierde jedoch mit dem Leben bezahlt hatte. Ada Ta hatte die mündlich weitervererbte Offenbarung zusammengetragen und schriftlich fixiert. Er wusste, dass Bayezid etwas im Schilde führte, denn seine Wissbegierde ging über ein rein religiöses Interesse hinaus. Noch ein paar Tage des Wartens, und die Feige würde sich öffnen und ihr saftiges und süßes Fruchtfleisch offenbaren. Ada Ta würde den Ratschlägen des Stieglitzes folgen – er würde die Frucht verspeisen und damit die notwendigen Kräfte sammeln, um seinen Plan voranzutreiben.
An diesem Frühlingsabend fiel ein warmer, dichter Regen. Die Gerüche der Erde stiegen auf und verwirrten die Sinne. Früher als gewöhnlich kehrte Ada Ta von seinem Spaziergang zurück – gerade noch rechtzeitig, um das Ende einer der seltenen Episoden zu hören, in der Jesus, nachdem er nach Palästina zurückgekehrt war, von einem schrecklichen Heimweh erfasst wurde. Ada Ta nahm in einer Ecke Platz und lauschte der Geschichte.
»… und er ging, ohne ein Wort zu sagen. Er versprach seinem Bruder Judas, ihn zu begleiten. Nach einem Tag erreichten sie das östliche Ufer des Toten Meeres.«
»Ich habe noch nie etwas von diesem See gehört«, unterbrach Bayezid Gua Li. Seine Aufmerksamkeit für jedes Detail der Erzählung grenzte schon fast an Besessenheit. Denn einerseits befürchtete er, getäuscht zu werden, andererseits wünschte er sich natürlich das Gegenteil. Er ahnte, was für ihn auf dem Spiel stand, wenn er einer Fälschung aufsäße, und in seiner Position konnte er sich nicht den leisesten Fehltritt erlauben. Alles musste zusammenpassen in Gua Lis Erzählung; es durfte keine Stolpersteine geben – weder geschichtliche noch religiöse. Nur so würde der wahnsinnige Plan, der in seinem Kopf bereits Gestalt angenommen hatte, aufgehen – nämlich die Schaffung eines dauerhaften Friedens durch eine umfassende Revolution. Mittlerweile war er sich mit seinem christlichen Verbündeten jedoch einig, dass der Schlag, den sie der Welt versetzen wollten, nicht den geringsten Spielraum für etwaige Fehler zuließe.
Die inneren Bedrohungen bereiteten dem Sultan kein Kopfzerbrechen. Seine Spione hielten ihn über die Entwicklungen bei den Charidschiten konstant auf dem Laufenden – sowohl über ihre Bestrebungen, in Europa Angst und Schrecken zu verbreiten, als auch über die Tatsache, dass sie an seinem Thron sägten. Ihm fehlte nur noch ein kleiner, aber wesentlicher Mosaikstein, bevor er seinen Plan umsetzen konnte: Er musste herausfinden, wer die Frau war, die »Die Wächterin des Berges« genannt wurde. Sie war die geheimnisvolle Führerin der Charidschiten; während – laut Gua Lia – eine andere die Mutter der Schöpfung war. Es gab so viel zu wissen, dachte Bayezid. Eigentlich müsste man sich mit weisen Eremiten auf einen Meteor zurückziehen, um bis an das Ende dieser Tage über den Sinn des Lebens nachzudenken! Aber vorher musste er erfahren, wer sein Leben bedrohte. Wenn er
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