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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Glücklich wuchsen die drei Brüder bei ihrer Mutter auf. Als sie spürte, dass der Tod nahte, holte sie jeden einzeln zu sich und gab einem jeden ein Stück Löwenfell. ›Ein Stück allein ist nichts wert‹, sagte sie, ›aber wenn ihr die drei Teile zusammenfügt, ist es eine Karte, die euch zu einem Schatz führen wird.‹ Als sie die Seele ihrer Mutter geehrt hatten, zog das Misstrauen bei den Söhnen ein, und obwohl sie im selben Haus lebten, versteckten sie ihre Karten vor den anderen. Als auch der letzte der drei Brüder gestorben war, ging der Dorfvorsteher mit den Ältesten in ihr Haus. Dort fanden sie die drei Karten, die allesamt gleich waren. Neugierig geworden wählten sie aufs Geratewohl eine beliebige Karte aus und fanden unter einem Felsen einen Schmuckkasten, der randvoll mit wertvollen Edelsteinen war, mit denen das Dorf für lange Zeit in Wohlstand gedieh. Was lehrt uns das, Gua Li?«
    Die junge Frau kannte die Geschichte. Soweit sie sie verstanden hatte, führte die Geschichte zu der Erkenntnis, dass man zwar seinem Schicksal nicht entrinnen kann – aber zugleich sein Herz und seinen Geist öffnen muss, damit man keine Gelegenheiten, die das Leben bietet und die es verändern könnten, versäumt.
    »Dass der Dumme, auch wenn er nach hinten kippt, sich die Nase brechen kann.«
    Das war das Erste, was ihr nach kurzem Nachdenken in den Sinn kam. Sie schaute Bayezid an. Er applaudierte lächelnd, und Gua Li erwiderte sein Lächeln.
    »Sehr gut«, rief Ada Ta aus. »Nun weiß ich, was unser wundervoller Gastgeber weiß. Und ich sage bewusst: was er weiß, und nicht, was er glaubt. Denn Glauben bedeutet Nichtwissen. Wenn du mich also fragst, ob es gerade regnet, dann kann ich dir hier in diesem geschlossenen Raum nur antworten, ich glaube es, ja – demnach bin ich mir also beileibe nicht sicher.«
    »Ich hätte euch hier niemals empfangen«, antwortete der Sultan, »wenn ich mir nicht vorher Bericht über eure Ziele hätte erstatten lassen. Der Mann, der euch nach Rom begleiten wird, war mir selbst von großem Nutzen. Durch ihn habe ich Giovanni Pico della Mirandola kennengelernt. Alles wird sich fügen.«
    Gua Li riss die Augen auf und hob den Kopf, senkte ihn aber unverzüglich wieder und starrte zu Boden. Ada Ta klopfte nochmals mit seinem Stab, dann hob er mit zarter Hand Gua Lis Kinn an.
    »Das Wissen«, sagte er, »ist wie der Vogel, der ohne Unterlass fliegt und sich nur auf den höchsten Baumwipfeln niederlässt – auf den Baumwipfeln und auf den Türmen der Minarette. Der Sultan weiß, und das wollte er uns wissen lassen. Das Wissen hat also erneut seinen Flug aufgenommen, und wir werden ihm folgen.«
    Ein Sonnenstrahl drang durch das Gitter in den Raum und zeichnete auf dem Marmorboden eine Arabeske. Der Sultan legte die Hände aneinander.
    »Allah, wer auch immer er sein mag, hat uns mit einem Funken seiner Weisheit erleuchten wollen. Möglicherweise«, ergänzte er mit einem Lächeln zum Abschied, »war es aber seine Mutter, die uns alle vereint. Geht nun. Ich glaube … nein, ich weiß , dass ihr an dem Mann, der euch in euren Gemächern erwartet, Gefallen finden werdet. In seinen Adern fließt das Blut beider Völker – das Blut desjenigen Volkes, das ihr gerade hinter euch lasst, und das Blut des Volkes, das ihr bald kennenlernen werdet. Vielleicht war die Mutter gerade aus diesem Grunde so großzügig mit ihm.«
    Als sich das vergitterte Tor des Harems hinter ihnen schloss, wusste Gua Li, dass sie nie wieder hierher zurückkehren würde. Sie war dem Sultan dankbar, dass er ihr mit der Aufmerksamkeit und Bewunderung zugehört hatte, die häufig am Anfang einer Liebe stehen. Sie drückte Ada Tas Arm, der ihr die Tore zur Welt öffnete. Fast erschien es ihr, als wäre die ganze Reise nur ihr gewidmet. Als hätten sie diese Reise in Wahrheit unternommen, um nach ihrer Herkunft zu suchen – und nicht, um der Menschheit die Geheimnisse dieses außergewöhnlichen Mannes zu offenbaren, der im Abendland als Sohn Gottes verehrt wurde.
    Als sie ihr kleines Gemach betraten, sahen sie den Mann des Sultans, der mit dem Rücken zu ihnen auf einem Stuhl saß. Er hatte einen Skizzenblock in der Hand und fertigte linkshändig mit einem Stift, der die gleiche braunrote Farbe wie sein Bart hatte, ein paar schnelle Skizzen an. Ada Ta und Gua Li sahen ihm zu, während der Mann sein Spiegelbild in einem Fenster betrachtete und mal mit heftigen, mal mit zarten Strichen sein Selbstporträt zeichnete. Mit

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