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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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lächelte. »Ich kenne Hunderte davon. Das haben mir die Mönche in den Bergen beigebracht. Stell dir vor: Sie bringen mit dem Klang ihrer Hörner sogar die Steine zum Schweben.«
    »Können sie Wunder vollbringen?«
    »Nein, Judas, das sind keine Wunder. Alles ist Teil dieser Welt, der Mensch muss nur lernen, sich selbst zu erkennen. Sobald ihm das gelungen ist, wird er in seinem Innern viele Erklärungen finden. Daran ist keine Zauberei. Erinnerst du dich an die Geschichte aus der Thora, in der die Priester des Pharaos das sogenannte Wunder vollbringen und ihre Stäbe in Schlangen verwandeln? Und die Geschichte von Aaron, dem Bruder des Moses, der das Gleiche tut? Die Schlange, in die sich sein Stab verwandelte, fraß alle auf.«
    »J…aa«, stammelte Judas.
    »Gut, und auch wenn sie das genaue Gegenteil von dem getan haben, was du gerade gesehen hast, so sind das doch keine Wunder. Meinst du nicht? Denk nach. In diesem Fall können wir nur zwei Dinge glauben. Entweder es gibt einen grausamen Gott, der sich einen üblen Scherz erlaubt und sich je nach Laune manchmal auf die eine und manchmal auf die andere Seite stellt. Oder es gibt zwei Götter, die miteinander kämpfen. Einer für die Ägypter und einer für unser Volk. Und jetzt höre, was die Thora sagt – und nicht ich: Sie sagt, dass das keine Wunder waren, sondern die Mächte des Wissens zweier Priesterkasten, der ägyptischen und der jüdischen – Männer, die einfach das Bewusstsein ihres Seins erlangt hatten.«
    Judas lief auf und ab. Er ballte die Hände zu Fäusten und biss sich auf einen Finger, mit dem er dann auf seinen Bruder zeigte und stehen blieb.
    »Das ist der Schlüssel.« Seine Halsadern traten wie ein Flussdelta hervor. »Und genau das fehlt dir, ein Schlüssel, damit die Menschen dich verstehen können! Du … du musst sprechen, aber du musst auch zeigen, was du kannst!« Er ballte erneut die Hände. »Das, was du ein Kunststück nennst, nennt das Volk Wunder. Wenn du derlei Kunststücke mit deinen Worten vermischst, werden dich alle verstehen und dir folgen!«
    »Aber das wäre doch eine Täuschung!«
    »Nein! Du täuschst sie nicht, du sagst ihnen ja nicht, dass es ein Wunder oder Magie ist, was du da tust. Du zeigst dich ihnen einfach so, wie du bist. Und dann werden sie dir glauben. Damit wird deine Rückkehr zu deinem Volk Frucht tragen und die Reise, die du machtest, zu etwas gut gewesen sein. Deine Opfer, die du bereits brachtest und in Zukunft bringen musst, werden dann nicht umsonst gewesen sein, das schwöre ich bei meinen Söhnen.«
    »Du hast gar keine Söhne …«
    Jesus senkte seinen Kopf und schüttelte ihn, aber der Bruder sah, wie er dabei schmunzelte.
    »Was hat das damit zu tun? Noch habe ich keine, aber ich werde Kinder haben, so sicher, wie es Sand in der Wüste gibt! Und nun bleiben wir so lange hier, bis du mir all das gezeigt hast, was du kannst. Ich aber werde dir überallhin folgen und dir helfen. Ich kenne diese Leute besser als du, lieber Bruder, denn ich habe seit meiner Geburt jeden Tag mit ihnen verbracht, ihre Ängste mit ihnen geteilt, ihre Empfindungen und – da ich ein guter Schäfer bin – auch ihren Gestank!«
    So blieben sie also vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berg Nebo. Tagsüber schützten sie sich unter einem Zelt vor der Sonne, und am Nachmittag gingen sie auf die Suche nach essbaren Wurzeln. Und Judas lernte, den Hunger und den Durst mit Kräutern und Knollen zu stillen und auf Fleisch zu verzichten. Nachts saßen sie um das Feuer, das die von der Wüste heraufwehende Kälte fernhalten sollte, und Jesus zeigte Judas, wie er die Kräfte des Geistes und des Körpers einsetzte, so wie er es von den Mönchen in den Bergen gelernt hatte. Und der Sternenhimmel schaute zu und lächelte …
    Bayezid hob abwehrend seine Hände, und zum ersten Mal nahm Gua Li einen anderen Geruch des Sultans wahr, der ihr unbewusst Angst machte, obwohl er nicht unangenehm war: Gua Li roch Meer und Luft, Flucht und ferne Länder.
    »Mittlerweile höre ich dir schon wochenlang zu, und ich könnte noch monate- oder gar jahrelang so weitermachen. Du hast gerade von dem Sternenhimmel der Nacht erzählt. Das gefällt mir: Unsere Dichter sagen, dass Sterne Löcher in der Himmelsdecke sind, durch die Allah uns das Licht des Paradieses zeigt. Gleichwohl ist der Moment gekommen, in dem sich unsere Schicksale erfüllen.«
    Gua Li sog die Luft ein – nun roch der Sultan nach blauem Mohn, süß wie die Berührung eines

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