Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
der rechten Hand, die den Rötel hielt, machte er eine entschiedene, aber nicht abweisende Geste und bedeutete Gua Li und Ada Ta, kurz innezuhalten. Noch ein paar konzentrierte Bewegungen über das Blatt – und er rollte sein Werk zusammen und steckte es in eine zylindrische Rolle. Dann, endlich, wandte er sich zu ihnen um.
»Leonardo di ser Piero, aus Vinci, einem kleinen Dorfe der Republik Florenz – ein Mann ohne Wissen und zuweilen ohne Manieren. Ich bitte um Verzeihung.«
19
Istanbul, 20. Juni 1497
Der Sonnenuntergang über den gekräuselten Wellen des Marmarameers war ein dünner roter Streifen, der die Felsen des Serailpalastes in goldenes Licht tauchte. Weiter oben, in den hängenden Gärten hinter dem Südturm, stand ein hochgewachsener Mann, der in einen nachtfarbenen Umhang gehüllt war. Prüfend ließ er seinen Blick über den Horizont schweifen. Als er die Schritte hörte, drehte er sich nicht einmal um; es waren die Schritte eines hinkenden Mannes. Vertraulich wandte sich der Hinkende an ihn – aber mit der Ehrerbietung, die seinem Rang zustand.
»Euch ein langes Leben, Großwesir. Seit Wochen versuche ich, mit Euch Kontakt aufzunehmen.«
»Wir müssen große Vorsicht walten lassen. Der Sultan ist kein Dummkopf. Er hat die Sicherheitsvorkehrungen erhöht und die Anzahl seiner Spione vervielfacht.«
»Heute könnten wir auf sein Grab spucken, wenn der Fremde mit dem Stock nicht gewesen wäre. Ich verstehe nicht, wie Allah es zulassen konnte, dass der Sultan verschont blieb.«
»Die Wege Allahs sind unergründlich, und es steht uns nicht zu, sein Handeln zu verurteilen. Darüber reden wir später. Lass uns niederknien, der Adhan beginnt.«
Kurz darauf erhellte ein grüner Blitz den Himmel und zeigte den Sonnenuntergang an. Aus den Minaretten erklangen die salbungsvollen Rufe der Muezzin, die sich zu einem vielstimmigen Aufruf zum Abendgebet vereinten. Die beiden Männer knieten sich auf ihren Gebetsteppichen nieder, folgten murmelnd den Aufrufen der Vorbeter und verneigten sich gen Mekka. Als die Stimmen versiegten, wandte sich der Mann mit dem schwarzen Umhang dem Hinkenden zu.
»Jetzt können wir uns an Gott wenden und seine Hilfe und sein Zutun erbitten, Osman.«
»Was sollen wir denn von Gott erbitten?«, fragte der Hinkende mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Dass das gesamte Abendland vor ihm erzittern möge und dass seine gerechte Strafe bald den Kafir, den großen Ungläubigen, ereilen wird. Die Stunde der Zerstörung naht. Allah hat bereits vor hundert Jahren den rechten Weg gezeigt und Tod und Zerstörung über die Ungläubigen gebracht. Damals sollte ganz Europa verseucht werden, aber sein Volk war noch nicht bereit, zum letzten Schlage auszuholen.«
»Wenn wir fähig sind, seinen Willen zu erkennen, wird er uns den Weg weisen.«
»Sein Wille geschehe.«
»Amen«, erwiderte der Hinkende.
»Bayezid hat Glück gehabt. Doch der Teufel, der ihn beschützt, wird nicht mehr lange leben – wie alle Ungläubigen, die sich nicht zu unserem Glauben bekennen werden. Über der großen Kirche der Christen wird ein grünes Banner wehen, auf dem achtundzwanzigtausendneunhundertmal der Name Allahs in goldenen Lettern stehen wird, und der Mann im weißen Gewand wird Allah als einzig wahren Gott anerkennen.«
»Wenn er überlebt … Wesir. Er könnte sterben, wenn Rom durch die Strafe Gottes gesegnet wird.«
»Durch die Ansteckung werden Millionen sterben, und am Ende wird alles zerstört sein. Er aber wird Zeuge unseres Sieges sein und bleiben. Wie eine Mutter, die vor ihrem eigenen Tod gezwungen ist, mit anzusehen, wie ein Sohn nach dem anderen umgebracht wird. Das ist der Wille des Propheten – gepriesen sei Sein Name.«
»Ich fürchte, dass der Zorn Gottes am Ende auch uns erreichen wird. Die Ratten sind schnell, Wesir.«
»Die Ratten sind die Überbringer seiner Rache; er aber hat uns das Feuerschild gegeben. Oder bist du dir nicht sicher?«
»Zwei meiner Männer sind angesteckt worden …«
Abdel el-Hashim packte den Hinkenden am Hals. »Idiot! Und? Was hast du gemacht, du Sohn eines stinkenden Kamels?«
Osman knickte auf seinen verkrüppelten Knien ein und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.
»Ich habe sie verbrennen lassen und die Wachen um die verseuchten Häuser verdoppelt. Ihr tut mir weh, Wesir …«
»Du weißt, was es bedeutet, wenn auch nur eine der verseuchten Bestien entkommt, nicht wahr?«
»Die Mauern sind acht Ellen hoch, glatt wie Mädchenhaut, und auf
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