Das Vermächtnis des Martí Barbany
ihm die Gräfin an den Kopf geworfen hatte, als sie nach dem furchtbaren Schrecken des Piratenüberfalls in seine Kajüte eindrang.
»Gut, wenn Ihr erfahren wollt, was ein Feigling träumt, so erzähle ich es.«
»Delfín, glaub mir, dass ich nicht für Spitzfindigkeiten zu haben bin. Wenn du mir einen Denkzettel geben willst, vergelte ich es dir auf die einzige Weise, die alle verstehen. Falls dir das lieber ist, so frage ich nach einer Tracht Prügel das Gleiche noch einmal. Man wird sehen, ob du dann etwas für Wortspiele übrighast.«
»Herrin, Ihr habt mich vor Doña Lionor ein ›Stück Dreck‹ genannt.«
»In dem Augenblick damals hast du für deine Feigheit verdient, was ich zu dir gesagt habe. Überfordere nicht meine Geduld, die schon groß genug ist. Und erkläre mir endlich diesen Traum.«
Der Zwerg kannte seine begrenzten Möglichkeiten genau, die größer waren, wenn er als Hofnarr auftrat, und sich beträchtlich verringerten, wenn er ein ernstes Gespräch mit seiner Herrin führte.
»Nun, eines Nachts, als wir gerade hier eingetroffen waren, habe ich, vielleicht zu reichlich, den Süßwein genossen, der die Länder hier auszeichnet und den man Muskateller nennt. Das ist ein heimtückischer Wein, denn er betäubt unmerklich den Geist, sodass ich nicht einmal die Kraft hatte, mich in meine Zimmer zurückzuziehen. Ich blieb auf den
Strohballen liegen, die man als Pferdefutter aufhebt. Sogleich verdunkelte sich um mich alles, und ich hatte einen seltsamen Traum.«
»Lass die langen Erklärungen, Delfín, und komm zur Sache.«
»Es ist gut, Herrin. Jedenfalls wart Ihr und Doña Lionor in Eurem Studierzimmer, als Ihr heftiges Weinen hörtet. Hinten im Zimmer, wo Ihr den Stickrahmen mit der Leinwand habt, an der Ihr arbeitet, sah man ein Körbchen, in das mehrere Säuglinge hineinpassten. Ihr und Eure Dame, Ihr habt Euch über das Körbchen gebeugt und entdeckt, dass dort unten zwei Bündel lagen. Als Ihr das sie bedeckende kleine Laken beiseitegezogen habt, konntet Ihr erschrocken sehen, dass eines der Neugeborenen, das dort lag, das Gesicht des anderen blutig gekratzt hatte.«
»Und was schließt du aus diesem Unsinn?«
»Ich? Nichts, Herrin. Ihr habt mich gefragt, und ich habe es Euch erzählt. Nun wisst Ihr es: Das war mein Traum. Doch ich erinnere mich lebhaft an die Vorahnung, von der ich Euch damals in meinem Wald berichtet habe, an dem Tag, als wir unseren Blutsbund schlossen, erinnert Ihr Euch? ›Ihr werdet der Ursprung einer Dynastie sein.‹ Ich glaube, der Augenblick ist gekommen.«
»Aber dafür muss ich Mutter werden.«
Die Gräfin dachte kurz nach. Schließlich fragte sie, nachdem sie sich wie jemand, der eine Vision verscheuchen will, mit der Rechten übers Gesicht gestrichen hatte: »Nun gut, Delfín. Du kannst ja das Schloss ungehindert verlassen, besuchst Garküchen, Wirtshäuser und Schänken und kommst mit dem einfachen Volk zusammen. Was halten die Leute von mir? Lieben oder hassen sie mich?«
»Es kommt darauf an, gnädige Herrin, um wen es sich handelt.«
»Tu nicht so geheimnisvoll und rede geradeheraus. Worauf kommt es an?«
»Auf die Stellung und Bildung jedes Einzelnen.«
»Und?«
»Also, Herrin: Das einfache Volk hat Angst. Es fürchtet, dass der Frieden in der Grafschaft verloren geht. Die einen geben dem Grafen und andere dem Papst die Schuld an ihren Ängsten – Ersterem, weil er bei Euch ruht, ohne ordnungsgemäß verheiratet zu sein, und Letzteren, weil er sich in Angelegenheiten einmischt, die ihn nichts angehen. Aber die einen und die anderen versuchen für alle Fälle, ihre Seele mit Gott zu versöhnen, und geben ihr Geld für Bittgebete, Fastenzeiten und Rosenkränze aus, hängt ihr Glück doch davon ab, dass in der Grafschaft Frieden
herrscht: Ohne Frieden gibt es keinen Handel, und wenn die Autorität durch Eure Anwesenheit beeinträchtigt wird, befürchten sie, dass der Maure es wieder wagt, Barcelona anzugreifen, und dass sie so alles verlieren. Manche Leute hatten noch nie ihre Sünden gebeichtet, und jetzt wollen sie nicht mehr auf den Beichtstuhl verzichten. Daran sind die Geistlichen nicht unbeteiligt, die von den Kanzeln herab die Ängste der Leute schüren.«
»Aber glaubst du, falls der Bannfluch wirklich ausgesprochen wird, dass dies der Zukunft der Grafschaft dermaßen schaden würde?«
»Meine innere Stimme sagt mir, dass dies überhaupt nicht zutrifft, doch die Geistlichen missbrauchen die Einfalt der Leute und prophezeien Tumulte und
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