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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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da gerade verlangte? Das konnte unmöglich sein Ernst sein!
    »Na los doch!«, brüllte Ehler geradezu. »Die Stirn zu Boden gedrückt will ich euch sehen! Wer sich hier und heute zu fein dafür ist, der wird auch widerspenstig sein, wenn Gott vor ihm steht. Dies ist ein Haus Gottes! Verweigert ihr euch hier, ist es fast das Gleiche, als würdet ihr dem Allmächtigen selbst ins Gesicht lachen. Und dann blüht euch schon jetzt nichts anderes als die ewige Verdammnis!«
    Zögerlich machten sich die Ersten daran, seinen Anweisungen Folge zu leisten und begaben sich zunächst auf die Knie. Andere allerdings schauten noch immer ungläubig.
    Christian wandte sich an Ava. »Träume ich, oder will dein verrückter Sohn jetzt tatsächlich, dass alle Anwesenden sich auf den Bauch legen?«
    »Schscht«, ermahnte ihn Ava leise. »Ich … weiß auch nicht. Wie es scheint schon …«
    »Das kann er vergessen. Ich bin doch kein …«
    »Du sollst es für Gott tun, nicht für Ehler!«, berichtigte sie ihn halbherzig und machte sich auf Richtung Boden. »Wenn es für Gott ist, kann es doch nicht falsch sein, oder?«
    »Ich glaube es nicht, Ava. Steh sofort wieder auf!«, flüsterte er erbost.
    »Schau dich um, Christian. Sie alle tun es. Und du solltest es auch machen.« Nach diesen Worten fiel Ava auf alle viere und legte sich auf den Bauch. Ihre Arme ausgestreckt, die Stirn auf den Boden gelegt.
    Ehler wartete, bis jeder Einzelne genauso lag. Ihm entging dabei nicht, dass sein Stiefvater der letzte Gläubige war, der seinen Weisungen folgte.
    » Memento homo, quia pulveris es, et in pulverem reverteris!«, erinnerte er die Hamburger daran, dass jeder Mensch aus Staub gemacht wurde und wieder zu Staub werden wird, wenn er stirbt. Nach diesen Worten nahm er eine Schale mit Asche zur Hand. »Diese Asche soll euch von aller Sünde reinigen, so, wie sie auch sonst alles reinigt, was man damit auswäscht.« Dann schritt er zu dem Rücken eines Mannes, der in der ersten Reihe lag, tauchte seine Finger in die Asche und zeichnete ein großes Kreuz auf ihn. Dies tat er ebenso mit allen anderen Männern und Frauen, die in der ersten Reihe lagen – ungeachtet dessen, dass sie fast unbezahlbar teure Gewänder trugen. Niemand wunderte sich mehr über das Verhalten des blindwütigen Geistlichen, der daraufhin einfach mit der Messe fortfuhr. In aller Ruhe vollzog er die Gabendarbringung, betete das Paternoster und sprach den Friedensgruß. Dann ließ er das Agnus Dei erklingen und feierte die K ommunion, die durch seine übertriebene Andächtigkeit schier endlos erschien. Erst nach der letzten Segnung und dem letzten Amen ließ er die unverändert liegend verharrenden Männer und Frauen sich wieder erheben.
    Christian war so erbost, dass es ihm nicht gelang, seine Gefühle zu beherrschen. »Das war das erste und das letzte Mal, dass ich mit dir eine Predigt deines Sohnes angehört habe!«
    Ava wusste nichts darauf zu sagen. Sie konnte seine Wut über die Demütigung verstehen. Es war den Gesichtern der anderen abzulesen, dass einige unter ihnen ähnlich dachten. Im Gedränge der Hinausströmenden fiel Ava noch ein: »Das Brot! Ich habe vergessen, ihm sein Brot zu geben.«
    Christian verdrehte die Augen, wandte sich aber trotzdem um und stemmte sich mit Ava gegen die wogende Menge.
    Ehler stand noch immer beim Altar, als seine Mutter und sein Stiefvater auf ihn zukamen.
    »Mein Sohn«, sagte Ava mit ihrem wärmsten Lächeln.
    »Guten Tag, Mutter«, begrüßte der Domherr Ava unterkühlt und ließ Christian einfach unbeachtet.
    »Ich habe dir etwas gebacken, was ich dir noch geben wollte.« Einladend streckte sie ihm das in Leinen gehüllte Brot entgegen.
    Ehler hob das Tuch an einem Zipfel hoch und schaute, was sich darunter befand. »Weißes Brot?«, fragte er fast schon ungläubig. »Du kommst zu mir mit weißem Brot am Anfang der Fastenzeit? Hast du denn nichts gelernt und nichts verstanden von dem, was ich erzählt habe? Ein solches Brot ist nur für eines gut: Völlerei!«
    Ava blickte betroffen und zog die Backware langsam zurück.
    »Ich will es nicht. Gib es den Armen auf den Stufen der Kirche, und bring mir nicht noch einmal eine solche Versuchung.«
    Nun hatte Christian endgültig genug. Er nahm Ava beim Arm und zog sie mit sich. Einen letzten, wütenden Blick warf er Ehler noch zu und sagte: »Komm mit, wir gehen besser, bevor ich an dem ersticke, was ich gerade runterschlucke! Es hat keinen Sinn, auch nur einen Moment länger

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