Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Holdenstede schwärmte – das wusste jetzt auch der strenge Geistliche, der vor Verachtung damals fast die Sprache verloren hatte. Seither war er seiner Mutter gegenüber ablehnend, was Hannah immer wieder eine Befriedigung war und Ava immer wieder bestürzte. Von ihren eigenen Hurereien mit Christian Godonis hatte sie dem Domherrn natürlich nichts gesagt.
Das Ehepaar verließ ohne die Kinder das Haus. Auf dem kurzen Weg zum Dom sagte Ava kein Wort. Fest eingehakt in den angewinkelten Arm ihres Gemahls, schritt sie neben ihm her. Nur einmal hob sie den Blick, um Albus Ecgo mit seiner Frau zu grüßen, dann waren sie auch schon am Ziel.
Wie immer, wenn eine Messe im Dom gehalten wurde, war es voll in dessen Langhaus – so auch heute, am Aschermittwoch, dem ersten Tag der Fastenzeit vor Ostern, und somit einem wichtigem Feiertag.
Ava und Christian kamen fast als Letzte, wenige Augenblicke nach ihrem Eintreten wurde die große Flügeltür auch schon geschlossen.
»Da ist er«, flüsterte Ava ihrem Gemahl zu und zeigte auf Ehler, der gerade in diesem Moment Einzug in den Dom hielt. Er trug ein wahrlich feierliches Gewand, einen Halbkreismantel, dessen unteres Ende bis zum Boden reichte und der immer dann, wenn der Domherr die Arme bewegte, eine weite, fast schon flügelartige Form bekam. Der Gesang war noch nicht verklungen, da hatte er den Altar erreicht. Mit andächtigen Bewegungen und feierlichem Blick vollführte er die Oration.
»Ich bin ja so aufgeregt …!«, entwich es Ava. »Hoffentlich unterläuft ihm kein Fehler.«
»Keine Sorge, Liebste. Dein Sohn wird dich sicher stolz machen«, versuchte Christian seine Frau zu beruhigen. Er selbst musste mit sich kämpfen, um seine wahren Empfindungen beim Anblick Ehlers nicht durch passende Blicke preiszugeben.
Die Evangelienlesung war gerade verhallt, da bekam sein eben noch feierliches Gesicht einen anderen Ausdruck. Unbewegt stand der Vertreter des Scholastikus’ plötzlich da und blickte eine Weile lang in die Gesichter der Gläubigen. Man konnte deutlich sehen, dass er keine Angst ob der großen Aufgabe spürte, die er heute zu bewältigen hatte. Viel eher glänzte in seinen Augen die Vorfreude und noch etwas anderes, was schwer zu deuten war. In seiner Rechten hielt er ein Kreuz und in seiner Linken eine Bibel. Als alle Münder verstummt waren, reckte er beides in die Höhe. Dann begann er zu sprechen.
»Erleuchtung!« Der Domherr stieß dieses Wort geradezu zwischen den Lippen hervor. Es hallte wider an den Wänden der Seitenschiffe und verklang schließlich. »Ist es nicht das, was wir alle anstreben?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen und ließ die Arme wieder sinken. Ohne Scheu blickte er nun einzelnen Anwesenden in die Augen. »Ja, ich kann es in euren Gesichtern sehen. Auch ihr wollt Erleuchtung haben – ein jeder von euch!« Während er sprach, kam er auf die Gläubigen zu. Er ging langsam, ließ seinen Blick nach links und rechts wandern. »Doch was seid ihr bereit, dafür zu tun?«, fragte er jetzt fast schon freundlich. »Was ist euer Einsatz, um eines Tages in das ewige Himmelreich eintreten zu dürfen?« Ehler blieb stehen. Blickte sich weiter um. Lächelte. Die Gesichter der Gläubigen waren ihm zugewandt. Es waren gefällige Mienen von Menschen, die ihm wohlgesinnt zu sein schienen. Noch! Denn diese angenehme Stimmung gedachte Ehler nun zu stören.
Ganz plötzlich drehte er sich mit wehenden Röcken um und schritt auf einen hölzernen Altar zu. Das Flattern seines Gewandes erschien unnatürlich laut. Dann riss er die linke Hand mit der Bibel darin nach oben und ließ sie mit einem gewaltigen Knall auf das Holz schnellen. Staub wirbelte auf, der sich auf dem Altar gesammelt hatte. Ehler wandte sich wieder der Menge zu, sein in der Hand verbliebenes Kreuz wie ein Schwert vor sich gestreckt, zeigte er nacheinander auf die einzelnen Gläubigen, die daraufhin regelrecht erschraken.
»Ich sage euch, was ihr bereit seid dafür zu tun: nichts! Rein gar nichts!« Seine ohnehin schon laute Stimme schwoll weiter an. Wurde sie eben noch von einem gefälligen Unterton begleitet, bekam sie jetzt etwas Böses.
Die Kirchgänger blickten zunehmend verwirrt. Zu schnell war die Stimmung umgeschlagen. Der Wechsel von sanftmütig zu hartherzig war zu abrupt gekommen. Unsicher schauten sie einander an, als Ehler offenbarte, was er wirklich über sie dachte.
»Ihr seid Heuchler – alle miteinander! Ihr denkt, dass es mit ein paar Gebeten und Spenden
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