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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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getan ist, aber ihr irrt euch. Der kleine Funke in euren schwarzen Herzen, den ihr euren Glauben nennt, ist am Verglimmen. Merkt ihr das denn nicht, ihr irregeleiteten Schafe? Eure Aufmerksamkeit gilt mehr jenem Prunk an den Hälsen eurer Weiber und dem Protz aus gutem Tuch, den ihr auf eurer Haut tragt, als Gott! Aus kratziger Wolle sollten eure Gewänder sein und die Ketten der Weiber aus groben Tauen, auf dass sie in das sündige Fleisch schneiden wie einst die Dornenkrone auf dem Haupte Jesu Christi, der für eure Sünden am Kreuz gestorben ist. Ihr seid eitel, verblendet, schwerfällig. Wahren Christen steht das nicht gut zu Gesichte.«
    Seine Worte verhallten in der Stille der Kirche. Sie hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Einige der anwesenden Frauen griffen sich unauffällig an den Hals oder ihre Handgelenke, wo funkelnder Schmuck ihre Haut zierte. Einige Männer, die in besonders auffällige Tuche gehüllt waren, schämten sich plötzlich dieser und wünschten sich, weniger geschmückt zur Messe gegangen zu sein.
    »Es ist eure Pflicht, den Funken eures Glaubens wieder in ein loderndes Feuer zu verwandeln, denn Gott nimmt keine Heuchler ins Himmelreich auf! Tut es, bevor es zu spät ist, ansonsten wird euch der Antichrist holen, euch in Stücke reißen bei lebendigem Leibe und wieder zusammensetzen, um das Gleiche noch einmal zu tun. Eure verdammten Seelen werden schreien, doch Gott wird nichts tun, denn ihr selbst tragt Schuld an all eurer Pein!«
    Ehler hatte schon fast erreicht, was er sich wünschte, doch seine Predigt war noch lange nicht am Ende. Nun ging er zurück zu der Bibel, nahm sie zur Hand und legte stattdessen das Kreuz auf den Altar. Seine Stimme war nun leiser, fast schon besänftigend.
    »Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott der Herr in der Johannes-Offenbarung. Es sind die Worte aus seinem Buch, welches er der Welt überlassen hat. Doch was genau will Gott uns damit sagen? Wofür stehen Alpha und Omega? Ich verrate es euch. Er sagt: Ich bin der Anfang und das Ende!« Wieder gönnte Ehler sich eine kurze Pause, in der er in die Runde schaute. Sein Blick blieb kurz bei Christian und seiner Mutter hängen.
    Ava bemerkte es. Sie erwiderte den Blick und, in einem kurzen Anflug von einem Bedürfnis, ihrem Sohn zu zeigen, dass sie stolz auf ihn war, lächelte sie ihm zu und nickte aufmunternd. Diese Geste blieb jedoch ohne Wirkung – im Gegenteil; sie meinte sogar etwas Argwohn in seiner Miene auszumachen. Ehler wandte den Blick so schnell ab, wie er ihn auf sie gerichtet hatte – fast so, als wäre sie eine Fremde. Avas Mundwinkel sanken wieder, ihr Herz fühlte sich schwer an. Sie hatte das Gefühl, ihr ältester Sohn war so weit weg, wie noch niemals zuvor. Und wenn sie es sich auch nicht eingestehen wollte – fast fürchtete sie sich vor ihm. Seine Worte waren so zornig und streng. Keine Liebe und kein Mitgefühl waren darin auszumachen. Wann war das nur geschehen?
    »Was sagen uns diese Worte Gottes?«, fuhr Ehler fort und schritt, die Bibel vor sich tragend, zwischen den Gläubigen umher. Einige versuchten, seinem Blick auszuweichen, was jedoch den wenigsten gelang. »Ihr wisst es bereits, nicht wahr? Ich kann sie förmlich riechen – eure Angst! Und wenn ihr jetzt geglaubt habt, ich spreche nicht laut aus, was der Grund eurer Angst ist, dann habt ihr umsonst gehofft!« Ehler blieb stehen und hob die Bibel über seinen Kopf. In genau dieser Haltung sprach er nun wieder mit dröhnender Stimme: »Gott spricht vom Ende. Dem Ende der Welt und vom Übergang in eine andere. Lasst euch gesagt sein, ihr Sünder, es werden Katastrophen auf uns zukommen: Stürme, Missernten, Krankheit und Tod. Und keiner von euch kleingeistigen Heuchlern wird dem entgehen können.«
    Nun schlugen die ersten Frauen ihre Hände vor die Münder und blickten verschreckt – für Ehler eine Wohltat.
    »Ja, bangt und zittert ruhig, heult und fleht, doch all das wird euch nichts nützen, wenn ihr nicht endlich umkehrt und euch dem wahren, dem einzigen Gott und Erlöser vor die Füße werft!« Jetzt war seine Raserei wieder zurück. Er nahm die Bibel herunter und hastete geradezu zum Altar. Seine Hände darauf stützend, forderte er die Gläubigen auf: »Und jetzt fallt in die demütigste aller Haltungen. Geht auf die Knie, ihr Sünder, und werft euch dann vor Gott in den Staub.«
    Hatten sie richtig gehört? In den Gesichtern der Männer und Frauen war Fassungslosigkeit zu sehen. Wollte er tatsächlich, was er

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