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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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das ganz hinten in der Ecke vor einem der Fenster stand. Hier lag, wie erwartet, die kostbare Berthold-Bibel, und vor ihr saß Ehler – ganz ins Studium vertieft. Überall um die Bibel herum lagen beschriftete Zettel, und an seiner Hand klebte Tinte, weshalb er die kostbaren Seiten der Bibel bloß mit seinen in den Ärmel eingeschlagenen Fingern anfasste.
    Der Scholastikus musterte seinen einstigen Schüler, während er sich ihm näherte. Ehler hatte wieder diesen Blick. Es war eine Mischung aus Verbissenheit, Eifer und Stärke – jene Tugenden, die ihn schon weit gebracht hatten und die er schon damals vor zehn Jahren, als er ihn und Thymmo in seiner Kurie bestrafen ließ, bemerkt hatte. »Sei gegrüßt, Ehler.«
    Der Angesprochene schreckte hoch. »Verzeiht, Magister. Ich habe Euch nicht kommen sehen.«
    »Was tust du gerade?«
    »Ich habe mir noch einmal die Aufzeichnungen der Kosten der Nikolaischule angesehen.«
    »Nochmal? Aber was hast du gehofft zu finden?«
    »Nicht bloß gehofft! Bei meiner Durchsicht habe ich festgestellt, dass das Marianum in den letzten Jahren weit mehr Kosten für Reparaturen erzeugt hat als die Nikolaischule. Außerdem lehren hier im Marianum zeitweise zwei bis drei Rektoren mehr. Diese Ungerechtigkeit muss ein Ende haben! Wir sollten das dem Rat vorlegen, damit er mehr Münzen zahlt, sodass die Nikolaischule ebenso viele Rektoren einstellen kann. Ich suche bereits in der Bibel nach passenden Argumenten. Gottes Wort hält schließlich immer eine Antwort bereit und …«
    »Ehler!«, unterbrach ihn der Scholastikus und schüttelte den Kopf. »Das Marianum ist doch auch viel älter als die Nikolaischule, und es hat mehr Schüler, die natürlich auch mehr Lehrer brauchen. Du fischst im Trüben, sage ich dir.«
    »Aber Magister, ist es Euch denn nicht auch ein Bedürfnis, Gerechtigkeit zwischen den Schulen …«
    Wieder unterbrach er Ehler. »Lass uns in meiner Kurie weitersprechen, nicht hier. Ich erwarte dich in einer Stunde.« Dann ließ er seinen einstigen Schüler mit einem letzten Gruß zurück.
    Ehler war wie vor den Kopf gestoßen. Selten hatte der Scholastikus bisher so abweisend auf eine seiner Ideen, die Schulen betreffend, reagiert. Nicht umsonst war er es, der seit zwei Jahren fast ausschließlich die Bücher führte und dem Magister zuarbeitete. Die nächste Stunde würde ihm noch sehr lang vorkommen, denn in seinem Kopf kreisten schon jetzt die Gedanken. In sich gekehrt sammelte er nachlässig seine Schriften zusammen, klappte vorsichtig die Bibel zu und verließ ebenfalls die Bibliothek.
    Als Ehler seinem Mentor endlich in dessen Kurie gegenübersaß, war er auf eine seltsame Art und Weise aufgeregt – ohne recht zu wissen warum.
    Johannes von Hamme ließ sich Zeit, bot ihm etwas zu trinken an und verwickelte sein Gegenüber in belanglose Gespräche über eine gerade abgeschlossene Reise. Dann endlich kam er zum entscheidenden Punkt. »Ehler, ich möchte mit dir über die Messe sprechen, die du in meinem Auftrag gehalten hast.«
    »Ich hoffe, dass ich Euren Erwartungen Genüge getan habe, Magister.«
    »Deine Kenntnisse über die Heilige Schrift scheinen wie immer überaus beeindruckend gewesen zu sein. Dies bestätigten mir die anderen Domherren. Doch warst du in deiner Ausdrucksweise den Gläubigen gegenüber wohl sehr … streng. Strenger als es gewöhnlich bei einer Feiertagspredigt üblich ist.«
    »Wie meint Ihr das?«, fragte Ehler lauernd.
    »Nun, ich meine, dass du etwas zu weit gegangen bist, als du verlangt hast, dass alle sich in Demut darnieder in den Staub werfen.«
    »Aber wie kann diese Geste, die Gott unserem Herrn geweiht war, zu viel sein?«, brauste Ehler nun regelrecht auf. »Ich … ich verstehe Euch nicht. Ist es denn nicht auch Euer Ansinnen, die Irregeleiteten zum Licht zu führen? Selbst wenn sie sich dafür ihrer Eitelkeiten entledigen müssen? Gott hasst Eitelkeit!«
    »Das mag ja stimmen, doch was bringt es, wenn die Gläubigen in Zukunft der Kirche weniger zugetan sind und daraufhin die Spenden nicht mehr fließen. Hast du auch schon mal daran gedacht?«
    »Dann werden wir sie durch Ablässe ihrer Münzen entledigen. Oder den Rat auspressen, auf dass er uns mehr Zahlungen für die vernachlässigte Nikolaischule gewährt!«
    »Der Rat wird nicht noch mehr zahlen. Schon die letzte Rechnung, die ich den Bürgermeistern aufgrund deiner Berechnungen vorgelegt habe, führte zu eindeutiger Missstimmung.«
    »Missstimmung? Der Rat hat wohl

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