Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
Vom Netzwerk:
zwischen den Marianern und den Nikolaiten eingekehrt – wenn auch nicht zwischen dem Scholastikus und dem Rat. Lange schon hatte es keine Schuljungenkriege mehr gegeben, nun mussten nur noch die Erwachsenen aufhören, über dieses Thema zu streiten – was ihnen schwerer zu fallen schien als den Kindern.
    »Wir können weiterhin darüber spekulieren, ob die Zahlungen gerechtfertigt sind oder nicht, aber das hat doch keinen Sinn«, sagte der Bürgermeister. »Ich habe einen anderen Vorschlag. Natürlich ist mir nicht entgangen, dass die vermeintlich benötigten Gelder in den letzten Jahren drastisch in die Höhe geschossen sind. So kann das nicht weitergehen, weshalb ich erwäge, mit dem Erzbischof über eine Entmachtung des Scholastikus’ zu sprechen.«
    Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wirklich niemand hatte damit gerechnet, dass der Bürgermeister einen solchen Vorschlag machen würde.
    »Was meint Ihr damit, Bürgermeister?«
    »Eine vollkommende Entmachtung?«
    Hartwic von Erteneborg schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Eine Entmachtung von Teilbereichen seiner Aufgaben. Johannes von Hamme soll weiterhin Scholastikus des Marianums sein, doch wir brauchen einen zweiten Scholastikus. Es ist nicht möglich, dass ein einzelner Mann die Interessen beider Schulen zu gleichen Teilen vertritt – das hat die Vergangenheit gezeigt. Und darum ist meine Idee, unseren ehrenwerten Erzbischof Giselbert von Brunkhorst am Tage des Weihefestes für das südliche Seitenschiff des Mariendoms im Mai, zu einer Besprechung vor den Rat zu bitten, um genau das mit ihm zu erörtern. Er hat Johannes von Hamme das Amt als Scholastikus beider Schulen vor genau zehn Jahren verliehen, und er kann es ihm auch wieder nehmen!«
    »Und wer soll der neue Mann Eurer Meinung nach sein?«, fragte Hinric von Cosvelde.
    »Nun, da der Magister Scholarum des Marianums auch ein Marianer ist, sollte der Schulmeister der Nikolaischule auch ein Nikolait sein.«
    Wie zu erwarten, waren die Bewohner des Nikolaiviertels gleich für diese Idee. Sie hatten ohnehin niemals gewollt, dass Johannes von Hamme der Scholastikus für die Schule ihres Kirchspiels wurde. Eine Entmachtung zu ihren Gunsten käme ihnen deshalb natürlich entgegen. Doch auch einige Bewohner der Altstadt, die eigentlich auf der Seite des Marianums hätten sein müssen, stimmten plötzlich für diese Idee. Auch ihnen war nicht entgangen, wie sehr Johannes von Hamme sein Amt in den letzten zehn Jahren ausgenutzt hatte. Sie wollten eine Änderung, und so entschied die Mehrheit für den Vorschlag des Bürgermeisters.
    Die Frage nach dem wer wurde schnell und nahezu einstimmig entschieden. Der Vorgeschlagene war zwar wenig erfahren, doch er hatte sich über die letzten Jahre bewährt und, was noch viel wichtiger schien, er war in der Lage, dem willensstarken Scholastikus furchtlos die Stirn zu bieten. Die Männer waren nicht ebenbürtig, doch die Familien, aus denen sie kamen, waren es allemal, und manchmal war der Stammbaum eine starke Waffe.
    Johannes von Hamme betrat die Bibliothek des Mariendoms, die gleichzeitig auch als Skriptorium diente. Wie erwartet, waren zu dieser Zeit des Tages einige Plätze besetzt. Gleich vorne am ersten Pult saß Heinrich Bars, der Kantor. Er hatte verschiedene Liederhandschriften vor sich und wirkte so darin vertieft, dass Johannes beschloss ihn besser nicht anzusprechen.
    Zwei Pulte weiter, auf der anderen Seite der Bibliothek, traf er auf die beiden Domherren Friedrich von Lütekenborch und Hartig Balke, welche gemeinsam an einem noch unfertigen Buch arbeiteten. Beide Männer hatten jeweils eine bereits beschriebene Doppelseite vor sich auf ihren Pulten. Nur die aufwändigen Initialbuchstaben, die Ranken und Verzierungen neben den Texten fehlten noch, welche das Buch unter anderem hinterher so kostbar machten. Angeregt sprachen sie die einzelnen Schritte im Flüsterton durch und entschieden gemeinsam die Formen und Farben und deren Platzierungen sowie den Einsatz von Gold.
    Leise grüßte der Scholastikus die beiden Domherren. Er wusste, dass auch sie bei der Arbeit nicht gestört werden wollten, aus gutem Grund. Schließlich waren es zumeist teure Auftragsarbeiten, denen sie sich widmeten, und jene Auftraggeber besaßen mitunter ein strenges Auge. Schon kleinste Fehler bedeuteten häufig, dass eine ganze Doppelseite neu erstellt werden musste.
    So schritt Johannes möglichst unauffällig an den Männern vorbei und ging auf ein Pult zu,

Weitere Kostenlose Bücher