Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
gelaufen und sah in das bleiche Gesicht des Domherrn.
»Schweig über meinen Besuch. Hast du verstanden?«, befahl er mit belegter Stimme; den ausgestreckten Zeigefinger dicht vor ihrem Gesicht.
»Ja«, antwortete sie erschrocken.
Danach ließ Ehler die Diele hinter sich. Mit einem Stoß öffnete er die Tür zum Hinterhof und verließ unbemerkt das Haus. Die Gedanken in seinem Kopf rasten; stolpernd lief er in Richtung Dom, wo er seinem drängenden Wunsch nach einem Zwiegespräch mit Gott nachkommen wollte. Er brauchte Beistand, um die aufkommenden Ängste in sich zu bekämpfen! Das durfte einfach nicht wahr sein! Der Magister Scholarum durfte nicht durch Christian Godonis entmachtet werden, denn dann wäre alles umsonst gewesen!
Ehler sah plötzlich die letzten Jahre voller harter Arbeit, Verzicht und Selbstzüchtigung an sich vorbeiziehen. Was hatte er nicht alles getan, um dorthin zu kommen, wo er jetzt war? Er wollte doch noch weiter – viel weiter! Ja, vielleicht wollte er selbst eines Tages Scholastikus der Nikolaischule werden. Sein Aufstieg durfte nicht auf diese Weise gestoppt werden. Was blieb ihm noch, wenn Johannes von Hamme seinen Einfluss auf die Nikolaischule verlor?
Ehlers Gedanken waren berechtigt, schließlich führte er schon seit zwei Jahren die Bücher der Schulen. Ob er wollte oder nicht, eine Entmachtung Johannes’ von Hamme wäre gleichbedeutend mit dem Schwinden seines eigenen Einflusses, denn dieser war untrennbar mit dem seines Mentors verknüpft.
Übelkeit stieg in ihm hoch. Er versuchte, sie zu bekämpfen, würgte und schluckte, doch noch am Wegesrand des Kattrepel musste er sich übergeben.
Wenig später kniete er mit freiem Oberkörper auf dem Boden der Krypta – das Gesicht den drei rechteckigen Fenstern an der Ostwand zugewandt. Rechts, links und vor ihm stand jeweils eine Kerze als Zeichen der Heiligen Dreifaltigkeit. Im Dom war es totenstill. Noch ein letztes Mal faltete er seine Hände und sprach ein inbrünstiges Gebet, doch seine teuflischen Gedanken wollten auch jetzt nicht verfliegen. Und so griff er zur Büßerpeitsche, die direkt vor ihm lag, holte aus und schlug sein Fleisch. Der erste Schlag presste ihm bloß die Luft aus seinen Lungen und hinterließ ein Brennen auf der Haut. Die darauffolgenden Hiebe waren gleichbleibend rhythmisch, fühlten sich aber zunehmend schmerzhafter an. Noch warf der Domherr sich die Riemen bloß abwechselnd über die Schultern, irgendwann aber packte ihn die Wut. Er war wütend auf sich und seine Gedanken, die sich nicht kontrollieren ließen. Seine Bewegungen wurden schneller und zorniger, bis der Weg von Schulter zu Schulter ihm zu weit wurde. Also begann er, sich auch von der Seite aus zu traktieren. Ohne Pause flogen die Riemen jetzt nach rechts und links, und schon bald riss seine Haut. Der Schmerz war nun nur noch schwer zu ertragen, doch hatte er gleichzeitig auch etwas so Erlösendes, dass es ihm ein Leichtes war weiterzumachen.
Mittlerweile klebte an der Peitsche so viel Blut, dass es bei jedem Schlag von den wirbelnden Riemen durch die Luft geschleudert wurde und an den Kryptawänden herunterlief. Nach einer Weile waren die Gemäuer um Ehler rot gesprenkelt. Und erst als dieser seinen Arm vor Anstrengung schon fast nicht mehr spürte, ließ er von sich ab.
Vor seinen Augen tanzten helle Punkte, in seinen Ohren rauschte das Blut. Er fühlte sich endlich von den Dämonen seiner üblen Gedanken befreit – doch er hatte es übertrieben! Unfähig sich zu erheben, schwankte sein Oberkörper eine Weile lang hin und her. Dann fiel er auf die Seite und blieb ohnmächtig auf den kalten Steinen liegen.
Hier fand man ihn am nächsten Tag. Einer der Chorschüler hatte sich aus reiner Neugierde in die Krypta geschlichen und beim Anblick des zerschundenen Körpers einen unfreiwilligen Schrei ausgestoßen, der so laut war, dass kurze Zeit später die komplette Bruderschaft hier versammelt war.
Heinrich Bars, der Kantor, hatte alle Mühe, die Jungen wieder hinauszuscheuchen. Einen jedoch griff er vorher am Kragen und befahl ihm: »Los, lauf zum Scholastikus, und sag ihm, er soll unverzüglich herkommen.«
Es dauerte nicht lang, da betrat Johannes von Hamme die Krypta. »Was ist hier passiert?«, fragte er, als seine Augen ihm die Frage beantworteten. Er schreckte zurück. Was er sah, schockierte ihn zutiefst. Sein Blick glitt zunächst über Ehlers blutigen Körper, dann die Wände hinauf bis zur Decke. Das Gewölbe glich einer
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