Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
sah plötzlich Beke im Eingang stehen. Eigentlich hatte er sich gestern schon von ihr verabschiedet und sie gebeten, nicht noch einmal herauszukommen, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. Doch jetzt, wo er sie noch einmal sah, freute er sich darüber. Scheu lächelte sie ihm zu, und er lächelte zurück. Zwischen ihnen war mehr als bloß dieses Lächeln, das wussten sie und er und natürlich der Ratsnotar, der jenes Wissen aber mit in den Tod genommen hatte. Vielleicht, sagte sich Thymmo, vielleicht komme ich wieder, um sie zu heiraten – eines Tages!
Dann umfasste er mit seiner Rechten das Holz des Wagens und setzte einen Fuß auf den Tritt. Es wurde Zeit zu gehen. Vor ihnen lag noch eine Fahrt von einigen Stunden.
»Halt!«
Der Ruf war so eindringlich, dass Thymmo in seiner Bewegung stoppte. Er hatte die Stimme sofort erkannt. Langsam nahm er die Hand vom Wagen und drehte sich um. In einiger Entfernung stand der Propst, der sich ihm und seiner Familie unbemerkt vom Dom her genähert haben musste. Der Geistliche hatte einen nicht zu deutenden Gesichtsausdruck.
»Du kannst nicht fahren!«
»Was meint Ihr damit?«, fragte Thymmo erstaunt.
»Nun, ich meine, es wäre sicher die falsche Entscheidung. Viele wären enttäuscht.« Jetzt kam er bedächtig näher, und mit jedem Schritt wurde seine Miene zugewandter.
»Wer wäre enttäuscht?«
»Das erkläre ich Euch gerne in Eurer Kurie, Domherr!«, sagte Albrecht respektvoll.
»Was?«, hauchte Thymmo, dem zig Gedanken auf einmal in den Kopf schossen.
»Das Domkapitel hat Euch soeben zum Domherrn ernannt. Ihr nehmt den Platz Ehlers ein und bekommt, wie jeder Domherr, auch eine eigene Kurie. Das heißt, natürlich nur dann, wenn Ihr die Wahl auch annehmt!« Albrecht von Schauenburg lächelte jetzt über das ganze Gesicht.
Alle waren wie erstarrt. Erwartungsvoll schauten sie zu Thymmo, doch der ließ mit seiner Antwort auf sich warten. Sein Blick wanderte noch einmal zu Beke. Er wusste, würde er nun annehmen, musste er ihr für immer entsagen . Wie sollte er sich entscheiden? Hatte er sich nicht gerade damit abgefunden, keine geistliche Laufbahn einzugehen?
»Diese Entscheidung kommt plötzlich …«, murmelte er vor sich hin und ließ den Propst noch länger warten. Seine Gedanken waren nun bei Johann Schinkel – seinem Vater! Was hätte er gewollt? Thymmo kannte die Antwort. Die letzten acht Jahre hatte der Ratsnotar alles getan, um seinen Sohn auf das Leben als Domherr vorzubereiten. Thymmo hatte es ihm in jüngster Zeit nicht gerade einfach gemacht, was er jetzt bereute, doch das war nun nicht mehr wichtig. In diesem Moment zählte nur die Zukunft, und nicht, was einst war. Mit einem Mal fiel ihm die Entscheidung ganz leicht: Er würde das Erbe seines Vaters fortführen, das war er ihm schuldig! »Ich nehme an!«
Der Propst nickte zufrieden. »Ich habe nichts anderes von Euch erwartet. Der Erzbischof wird erfreut sein, das zu hören. Wenn Ihr so weit seid, bringe ich Euch zu ihm.« Albrecht von Schauenburg ließ den jungen Mann noch eine Weile mit seiner Familie allein und hielt sich im Hintergrund. Sollte er sich in aller Ruhe von ihnen verabschieden – auf ihn warteten schließlich ernste Aufgaben und eine Laufbahn, die ihm in den nächsten Jahren einiges abverlangen würde.
Noch immer war der Propst ein wenig stolz auf sich. Durch sein kirchliches Amt und seine gräfliche Herkunft war er wie kein Zweiter in der Lage, geistliche und weltliche Interessen in seinem Kopf miteinander zu verbinden. Diese Fähigkeit war kürzlich dem Erzbischof zugute gekommen, als der Ablassbrief und die damit verbundene schier unglaubliche Wahrheit über Walthers Herkunft zutage kamen. Durch Tymmo sollte es ihnen nun gelingen, einen tiefsitzenden, störenden Stachel endlich aus dem Fleisch zu ziehen. Der Propst und der Erzbischof legten viel Hoffnung in den ehemaligen Schüler des Ratsnotars. Sie konnten nur beten, dass er stark genug war, damit ihr Plan auch funktionierte.
Der erste Streich war fast schon getan. Giselbert würde dem jungen Mann die Domherrnwürde verleihen, was nach der Bulle von Papst Gregor IX. eine Voraussetzung war, um ihn dann, ein paar Jahre später, zum Archidiakon eines der ihm unterstellten Distrikte im Bistum zu ernennen. Seine Handlung lag im Wunsch nach Frieden begründet, denn heute, wo Walther von Sandstedt ein Lehnsmann Joh anns II. war und sein Sohn ein Mann des Erzbischofs, würden die Grafen von Stotel es nicht mehr wagen, ihre
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