Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
zugeteilt, was heute allerdings wenig ratsam gewesen wäre. So ließ man die Männer der zerstrittenen Parteien gegenüber Platz nehmen – die Ratsherren und Bürger des Kirchspiels St. Nikolai auf der einen und die Domherren und Bürger des Kirchspiels St. Petri auf der anderen Seite.
Giselbert von Brunkhorst ließ seinen Blick über die Männer schweifen. Jetzt war es soweit – es gab kein Zurück mehr, und er wusste, dass nicht alle mit seiner Entscheidung einverstanden sein würden. »Ihr guten Männer, Bürger, Domherren und Ratsherren, lasst nun, da wir Gottes Segen haben, die Versammlung beginnen. Ich möchte anfangen, indem ich die Umstände noch einmal von beiden Parteien erläutern lasse.« Der Erzbischof räusperte sich und erteilte dann Dagmarus Nannonis als Sprecher der Nikolaiten das Wort. »Bitte, Ratsherr. Sagt uns noch einmal, wie sich die Sache aus Sicht der Nikolai-Bewohner darstellt.«
»Das werde ich, habt Dank, Erzbischof.« Nannonis wandte seinen Blick nach vorn zur gegnerischen Seite und begann laut und deutlich zu sprechen: »Vor acht Lenzen, im Jahre des Herrn 1281, wurde der Wunsch von Seiten der Bewohner des Kirchspiels St. Nikolai nach einer eigenen Schule laut. Die Bürger der Neustadt beanstandeten, dass das Marianum in der Altstadt seit einigen Jahren dem Verfall preisgegeben werde und unter den Missständen leide, hervorgerufen unter anderem durch schlechte Simonie. Außerdem war die Neustadt zu diesem Zeitpunkt bereits stark angewachsen, sodass eine eigene Schule durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Wir, die Bewohner des Nikolai-Kirchspiels, wendeten uns also an den ehrenwerten Erzbischof, um eine Concession zur Eröffnung einer Schule in unserem Kirchspiel zu erlangen. Nachdem Ihr, Erzbischof Giselbert, uns Euer Wohlwollen mitteiltet, ließen wir eine Deputation der Nikolai-Bewohner durch den hier anwesenden Johannes von Lüneburg zum Papst aussenden. Papst Martin IV. erlaubte uns, eine Schule der Grammatik zu eröffnen, was er in seiner Bulle vom siebten Juli 1281 niederschrieb. Laut dieser Bulle sind wir außerdem dazu berechtigt, eigene Lehrer einzusetzen.« Nach einer bedeutungsschweren Pause erhob sich Dagmarus Nannonis von seinem Platz und gab seiner Stimme etwas Drohendes. »Diese Bestimmungen sind eindeutig – sie wurden uns vom Heiligen Vater, dem Vertreter Gottes auf Erden, selbst erteilt! Und dennoch trotzt der Scholastikus des Marianums uns wieder und wieder auf das Dreisteste. Es wird Zeit, dass diese Schmach ein Ende hat. Die Bürger des Kirchspiels St. Nikolai und ebenso wir, die Herren des Rates der Stadt, denen diese Schule unterstellt ist, fordern endlich Gerechtigkeit!«
Giselbert von Brunkhorst nickte Dagmarus Nannonis zu und sagte, »Habt Dank, Ratsherr. Ich bitte Euch, setzt Euch wieder.« Dann legte er den Blick auf den Scholastikus Johannes von Hamme, dessen Ausdruck wie immer etwas Selbstsicheres ausstrahlte. Es war nicht zu übersehen, dass ihn die wütende Ausführung des Ratsherrn nicht im Geringsten verunsichert hatte. »Magister Scholarum, wollt Ihr uns nun die Ansichten der Kapitelmitglieder und natürlich die des Marianums erläutern?«
Johannes von Hamme blickte auf die gegenüberliegende Seite des Chores; er schaute den Männern eine quälende Zeit lang in die Gesichter. Dann sprach er, ohne sich zu erheben: »Das Recht bedarf nicht vieler Worte! Drum halte ich mich kurz. Die Oberaufsicht der einzigen Schule Hamburgs liegt nun schon seit Jahrhunderten in der Hand des Scholastikus’, der die Rektoren schon immer in Absprache mit dem Domkapitel ernannte und sie auch entlohnte. Seit nunmehr zwölf Jahren ist dieses Amt in meiner Hand. Eure Schule mögt Ihr Leute ja vielleicht durch die päpstliche Bulle bekommen haben, doch die Befehligung aller Schulen der Stadt gebührt nach wie vor mir, dem Magister Scholarum, allein! Ich werde auf mein gottgegebenes Amt nicht verzichten – es sei denn, es ist des Erzbischofs ausdrücklicher Wunsch.« Der Scholastikus hatte seine Forderung erläutert, ohne auch nur einen neuen Grund für sein vermeintliches Recht genannt zu haben. Seine einzige Begründung bestand darin, dass alles so zu bleiben hatte, wie es immer schon gewesen war. Stoisch beharrte er seit acht Jahren darauf, was die Nikolai-Bewohner und Ratsherren zur schieren Verzweiflung brachte.
Der Erzbischof hatte alles regungslos mit angehört. Doch die eben noch einmal aufgeführte Erklärung des Scholastikus war nicht entscheidend gewesen für
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