Das Vermächtnis des Rings
sie trug, und manchmal fragte er sich, wem sie wohl vor ihm gehört haben mochten und ob jemand in eben diesen Stiefeln aufregende Abenteuer erlebt hatte. Über solche und ähnliche Fragen und die Antworten darauf konnte der Junge endlos nachsinnen, und genau genommen hatte er den allergrößten Teil seines bisherigen Lebens mit eben solchen Träumereien zugebracht. – Nun, dachte er bei sich, und das Herz wurde ihm in der schmalen Brust schwer wie ein Stein, damit war es jetzt wohl vorbei. Was ihn hinter dieser Tür auch erwarten mochte, es würde wenig Anlass zum Träumen bieten; allenfalls zu Albträumen…)
Der Blick des Jungen haftete an dem dürren, braunen Gras, das zwischen seinen Füßen spross. Er stutzte kurz, ohne zu wissen, weshalb. Dann fiel es ihm ein: Das Gras wuchs unmittelbar vor der Tür der Hütte. Es hätte niedergetreten sein müssen oder längst nicht mehr wachsen dürfen, wenn hier stetig jemand ein- und ausging. Viel eher wäre ein Trampelpfad zu erwarten gewesen, der von der Tür der Hütte fortführte. Es schien so, als ginge nur selten jemand in diese Hütte hinein oder käme aus ihr heraus…
Gewiss wäre dem Jungen noch mehr Wundersames auf- und eingefallen, hätte ihn nicht in eben diesem Augenblick eine Stimme aus seinen Gedanken gerissen. Er sah auf, und wieder schaute er den Drachen an – und wahrlich, es war der Drache, der da sprach.
»Was wollt Ihr –?«, hatte der Drache begonnen, dann aber innegehalten. Das Schwarz seiner Augen hatte sich, Lidern gleich, gehoben, und hätte der Reiter einen Kopf auf den Schultern getragen, hätten er und der Drache jetzt einander in die Augen sehen können. So aber rümpfte der Drache die breite Nase, und der Ring in seinen Nüstern schwang einmal hin und einmal her. Rost rieselte wie dunkler Schnee zu Boden.
»Ah, ich sehe schon«, sagte er dann und nickte. Das Türholz knirschte und knackte. »Und was habt Ihr mir diesmal anzubieten?«, fragte er schließlich.
Die Faust des Reiters schloss sich fester um das Genick des Jungen und hob ihn einen Fußbreit vom Boden hoch. Der Drachenkopf senkte sich ein wenig, sein Blick traf abermals den Jungen, und wieder rümpfte er die schwarze Schnauze. Der Junge hatte plötzlich das Gefühl, von oben bis unten abgetastet zu werden.
»Hm, nun, kein übles Angebot«, fuhr der Drache nach einem Weilchen fort. »In der Tat könnte ich jemanden brauchen, der mir zur Hand geht… Nun gut, kommt herein. Will sehen, was ich für Euch tun kann.«
Schwärze senkte sich über die Drachenaugen, und der Schädel erstarrte wieder zur Reglosigkeit, derweil die Tür sich öffnete. Hinter der Schwelle machte der Junge einen kurzen Dielenboden aus, der nach zwei Schritten jedoch vor einer dunklen Wand zu enden schien.
Und genau dort stand der alte Mann.
Wieder spürte der Junge eine möglicherweise ungerechtfertigte Erleichterung. Doch immerhin sah er sich keiner bösartigen alten Hexe gegenüber, womit er im Stillen gerechnet hatte, und wie ein Schwarzzauberer sah der alte Mann auch nicht aus – jedenfalls nicht so, wie man sich einen Schwarzzauberer im landläufigen Sinne vorstellte. Weder trug der Alte einen weiten Mantel noch einen spitzen Hut, auch fehlten ihm der wallende Bart und der finstere Blick. Nein, er trug Allerweltskleidung, alt und abgetragen; eine derbe Joppe, an den Ellenbogen dünn und mehrfach geflickt wie die Knie seiner Hosen, die unter einer langen ledernen Schürze gerade noch hervorsahen. Vornübergebeugt stand er da, und sein Gesicht… vor allem müde wirkte es, wenn auch tief in seinen Augen noch ein Funke blitzte – der dem Jungen allerdings keine Angst einjagte. Er hatte diesen Funken schon oft in den Augen alter Leute gesehen; er lag in ihrem Blick wie ein wohlgehüteter Schatz, den sie selten hervorholten. Nur dann, wenn sie von alten Zeiten sprachen und die schönsten oder aufregendsten Augenblicke ihres Lebens noch einmal durchlebten. Dann kam dieses kleine Licht tief aus ihrem Innern hervor und ließ ihre Augen leuchten.
Nein, den alten Mann fürchtete der Junge nicht. Was indes nicht hieß, dass seine Angst zur Gänze verschwunden war. Die Unsicherheit, die Sorge, was ihn hier erwarten mochte, ließ ihn nach wie vor zittern, als hocke er nackt und ungeschützt in Schnee und Eis.
Der alte Mann trat schlurfend einen Schritt beiseite und bedeutete dem kopflosen Reiter einzutreten. Der folgte der Einladung, den Jungen noch immer fest im Griff. Hinter ihnen schloss der alte Mann
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