Das Vermächtnis des Rings
nur dann, wenn das Auge wusste, wonach es Ausschau halten musste. Es schien ein Teil des Waldes aus toten Bäumen zu sein, fügte sich nahtlos ein in den silbergrauen und schattenschwarzen Wirrwarr aus grotesk verkrüppelten Stämmen und ineinander verflochtenem Astwerk. Zwielicht und ein bleifarbener Himmel, der über allem hing, trugen noch das ihre dazu bei, um das Haus beinahe unsichtbar zu machen.
Der kopflose Reiter indes hatte das Haus inmitten des Waldes so sicher gefunden, als sei er noch sehend. Er stieg von seinem Ross, zog den Jungen grob herunter, und dann strebte er schnurstracks der Tür zu, so zielsicher, dass der Junge sich nur wundern konnte – zumindest ein wenig, denn in erster Linie war er vollauf damit beschäftigt, einfach nur vor Angst zu zittern. Das tat er immer noch, obgleich er nun schon seit zwei Tagen und zwei Nächten mit dem kopflosen Reiter auf demselben Pferde saß. Seit der Stunde eben, da der Unheimliche ihn unter der Brücke am Stadtrand fortgeholt hatte, wo der Junge sich zum Schlafen niedergelegt hatte.
Aus welchem Grunde der Kopflose ihn entführt hatte, das freilich hatte der Junge nicht erfahren. Wie auch? Der Reiter selbst konnte es ihm schlechterdings verraten, und auf dem Weg hierher waren sie weder einer lebenden Seele begegnet, noch hatten sie Rast gemacht oder eine Wegmarke passiert, die dem Jungen einen Hinweis darauf gegeben hätte, wohin sie unterwegs waren. Trotzdem war sich der Junge im Klaren darüber, dass er nichts Gutes zu erwarten hatte.
Das Haus – nein, wirklich nur eine Hütte, berichtigte sich der Junge still; in dem Moment jedenfalls, da der kopflose Reiter ihn zur Tür hinzerrte, betrachtete er es lediglich als Hütte, eine armselige noch dazu. Erst später (und auch dann nur Stück um Stück) gelangte er zu einer gänzlich anderen Anschauung… – die Hütte also versteckte sich geradezu zwischen uralten Bäumen, duckte sich unter dem laublosen Geäst, das strohgedeckte Dach in der Mitte eingesunken, als wäre es durchgesessen, als nehme von Zeit zu Zeit ein Riese darauf Platz, um zu verschnaufen und die Aussicht über die kahlen Kronen des Waldes zu genießen. Die Fenster beiderseits der Tür wirkten flach, als seien sie nur aufgemalt, mit vornehmlich schwarzer Farbe. Und im weiten Umkreis rührte sich nichts; nicht der geringste Laut war zu hören. Nicht einmal mehr das Schnauben des Pferdes, obschon es doch kaum zehn Schritte hinter ihnen stand, wie sich der Junge mit einem Blick über die Schulter vergewisserte. Mit gesenktem Kopf suchte das Tier auf dem staubigen Boden nach einem Grashalm, auf dem es sich zu kauen lohnte.
Die Füße des Jungen bewegten sich wie von selbst, derweil er zum Pferd des Reiters zurücksah, und er wäre blindlings gegen die Tür der Hütte gerannt, hätte der Mann ohne Kopf ihn nicht festgehalten. So drohte er zu stolpern ob des abrupten Halts, doch der Reiter hielt ihn am Schlafittchen und bewahrte ihn vor dem drohenden Sturz. Der Junge rang um Luft, schob den Finger zwischen Kragen und Hals, hob den Kopf und reckte das Kinn – und dann stockte ihm der Atem ganz und gar, als der Blick des Drachen ihn traf.
Es schien, als habe der Drache sein Haupt zwischen zwei Bohlen der Tür hindurchgesteckt. Dunkel, fast schwarz war es, dennoch hätte man seine Schuppen zählen können, so deutlich waren sie zu sehen. Und schwarz waren auch die Augen des Drachen. Trotzdem traf der Blick den Jungen hart und rührte etwas tief in seinem Innern.
Es dauerte einen Moment, bis der Junge begriff, dass er keineswegs den Kopf eines echten Drachen vor sich hatte. Der rostige Ring, der durch die Nüstern des Schädels gezogen war, räumte den letzten Zweifel aus; zumindest, als der kopflose Reiter nach eben diesem Eisenreif langte, ihn anhob und schwer gegen das Türholz fallen ließ, drei Mal. Dumpf hallten die Laute diesseits und jenseits der Tür wider.
Vage Erleichterung breitete sich in dem Jungen aus, dennoch wollte er den Anblick des Drachens nicht länger ertragen; bei den Göttern, das Scheusal sah echt aus! Freilich hatte der Junge sein Lebtag lang keinen echten Drachen gesehen, doch hatte er genügend über diese Ungetüme gehört, um sich ein Bild von ihnen machen zu können. Und wer immer diesen Drachenkopf aus schwarzem Holz geschnitzt hatte, er schien nach lebendem (oder totem) Modell gearbeitet zu haben.
Der Junge senkte also den Blick zu Boden, auf die Spitzen seiner abgewetzten Stiefel (er war nicht der Erste, der
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