Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
Vom Netzwerk:
beim Anblick all dessen zu überwältigt von seinen Gefühlen, um sie in Worte fassen zu können. Es ist zu groß, um darüber nachzusinnen, gleichzeitig zu geschichtsträchtig und zu gegenwärtig; insgesamt einfach zu schön. Jerusalem liegt schimmernd da wie eine Schönheit, um die die Jahrhunderte gekämpft haben.
    Es scheint ein vollkommener Augenblick zu sein, ein Moment gemeinsamer Empfindungen: eine tiefe, unausgesprochene, scheue Verbundenheit. Jerusalem liegt in all seiner Pracht, seiner Gleichgültigkeit und seiner Verletzlichkeit vor uns ausgebreitet. Es sind nur Hügel und eine Stadt. Keiner von uns beiden kann ausdrücken, was es uns bedeutet.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Eine Stimme durchbricht unseren Bund. Wir weichen auseinander. Gideon schaut zu Boden. »Wären Sie so nett, ein Foto von uns zu machen?«
    »Natürlich«, sage ich und nehme die Kamera in die Hand. Es vergeht etwas Zeit, bis sie mir die Handhabung erklärt haben. Ich knipse die dicke Frau und ihren dünnen Mann vor der uralten Kulisse, die trotz allem nicht nur ein Klischee ist. Als ich mich wieder Gideon zuwende, ist er ein Stück weitergegangen. Ich gehe zu ihm unter die Zypressen, wo er verdrossen mit dem Zeh Muster kratzt.
    »Also«, sage ich.
    »Also.«
    Plötzlich spüren wir nichts mehr. Die Aussicht ist ein
Postkartenmotiv, bar jeder Bedeutung und jeden Gefühls. Ein kurzer Touristenstopp auf der Rundreise.
    Ich schaue weg, in die Ferne, in den Himmel. »Wenn ich es täte«, sage ich.
    »Ja?« Sein Ton ist unverbindlich.
    »Ich könnte es nicht sofort tun.«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt kann.«
    »Nein.«
    »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich es überhaupt tun will.«
    Er wirft einen Kieselstein, mit dem er gespielt hat, hart auf den Boden. Ein Staubwölkchen wirbelt auf. Ich frage mich, ob ich ihn tatsächlich wütend gemacht habe.
    »Vielleicht solltest du es nicht tun.«
    »Hast du jetzt ein schlechtes Gewissen, weil du gefragt hast?« Ich lächle ein wenig.
    »Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.« Er wendet sich ab. »Macht dich das glücklich?«
    »Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich glaube dir. Macht dich das nicht glücklich?«
    »Ich weiß nicht.« Er zieht eine Grimasse. »Es macht mir Sorgen.«
    Ich lache. »Mir macht es auch Sorgen. Ich werde wohl ein bisschen porös in der Birne.«
    »Du wirst was?«
    »Egal. Ich muss ja auch an andere Dinge denken. An meine Familie zum Beispiel.«
    »Mach dir darum keine Gedanken«, unterbricht Gideon mich. »Es ist nicht so, dass du sie betrügen würdest.«
    »Nein?«
    »Nein«, sagt er mit Nachdruck. »Im Gegenteil.« Er schaut mich intensiv an, sieht mir direkt ins Gesicht. Sein Blick
und seine Worte haben etwas zu bedeuten, was mir erst jetzt vage dämmert.
    »Ich muss mir über meine Gründe klar werden«, fahre ich langsam fort.
    »Was für Gründe?«
    »Zum Beispiel«, ich spreche noch langsamer, erstickt; ich fürchte, mir wird die Stimme versagen, »dass ich es möglicherweise deinetwegen täte.«
    Er sieht mich immer noch an, und ich starre zurück. Um uns hat sich Stille gesenkt. Über die Berge und die Stadt, über das Land fällt eine Glocke aus undurchdringlichem, abwartendem Schweigen. »Das ist ein ebenso guter Grund wie jeder andere«, sagt Gideon.
    Dann lächelt er mich an, und ich bin beruhigt. Dieses sanfte Lächeln spendet mir immer Trost. Ich scheine es schon ganz lange zu kennen: Seine Vertrautheit hat etwas Herzzerreißendes. Ich vertraue ihm vollkommen, und doch möchte ich weinen. Was ist das mit Gideon?, frage ich mich. Er steht sieben Schritte von mir entfernt, und ich zittere. Meiner Sehnsucht nach zu urteilen, könnten es auch sieben Meilen sein.
    Ich schüttle mich, spüre das Verlangen, mir die Augen zu reiben wie nach einem Traum. »Was?«, frage ich.
    »Wenn ich dein Grund sein soll, lass mich dein Grund sein.«
    Da löst sich wie aus heiterem Himmel das Rätsel: Weich wie eine Schneeflocke fällt das Puzzlestück an seinen Platz. Und doch begreife ich es kaum. Es ist etwas im Gesicht, es ist etwas in den Augen. Es ist das Lachen oder die Gesten; es ist Unsinn. Es ist etwas und nichts. Wir stehen einander unter den Zypressen gegenüber.
    »Wie du dich auch entscheidest, ich bin in deiner Hand. Aber denk dran«, seine Stimme ist ruhig, und er spricht bedächtig,
»meine Zeit hier ist begrenzt und deine auch. Du kannst nicht für immer unentschlossen bleiben,

Weitere Kostenlose Bücher