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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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vorüberkam, und fragte: »Hört es nie auf, dass neue Bücher kommen?«
    Der Engel lächelte. »Oh nein«, sagte er. »Es gibt kein Ende der Bücher.«
    »Wer mehr weiß, hat mehr Kummer«, fügte ein anderer im Vorbeischweben hinzu.
    Moses las weiter und arbeitete sich durch. Er las die Propheten und die Hagiographen und die Apokryphen und die Pseudepigraphen. Er las Josephus und Philo und Paulus und Aristobulus. Er las die Mishnah und die Gemara, Rashi und Maimonides. Er las den Sohar und Nachmanides. Dann senkte er den Kopf und las sich wie eine Maschine durch das Mittelalter und ins siebzehnte Jahrhundert und ins achtzehnte, durch all die Gemetzel und Pogrome und Verleumdungen und Vertreibungen, durch alle Debatten und Philosophien und Gedichte und Revolutionen, und als er den Kopf hob und auf die Bibliotheksuhr schaute, sah er, dass siebzig Jahre vergangen waren.
    Aber er wollte nicht aufhören, und so senkte er den Kopf wieder und widmete sich dem neunzehnten Jahrhundert und las von Reformen und Aufklärung und Nationalismus und
Emanzipation und von Pogromen und Verleumdungen und Gemetzeln und Vertreibungen, und die ganze Zeit fügte der Engel armeweise Bücher hinzu, und das Ende des Regals entfernte sich von Minute zu Minute weiter. Aber er hatte keine Zeit, eine Pause zu machen und dabei zuzusehen, und so fuhr er fort mit Selbstemanzipation und Ahavat Zion und den Erinnerungen von Shalom Shepher, der zu den zehn verlorenen Stämmen gereist war, und Der Judenstaat von Dr. Theodor Herzl, und dann las er ohne Unterbrechung weiter bis ins zwanzigste Jahrhundert.
    Als er im zwanzigsten Jahrhundert ankam, pflügte er sich durch dichte Erörterungen und Statistiken und Weißbücher und Untersuchungsausschüsse, von denen ihm der Kopf schwirrte. Und er las von Bomben und Mord und Totschlag, bis er zum Holocaust kam. Und dann las Moses zwanzig Jahre lang über den Holocaust, und so schnell er auch las, es wurden neue Bücher hinzugefügt, bis er am liebsten geschrien hätte.
    Dann begann er mit dem jüdischen Staat, und es gab Kriege und Bomben und Gemetzel und Vertreibungen und Lieder und Reden und Paraden und Theater, und eine Menge Hochglanzbildbände über Jerusalem. Als er hundert Jahre lang gelesen hatte, wurde er ein wenig müde, aber er kämpfte weiter, denn er wollte auf der Höhe der Zeit sein. Und nachdem er hundertzehn Jahre gelesen hatte, fühlte er sich ein wenig krank, ihm wurde schwindelig, und er beschloss: »Ich lese nur noch dieses Buch zu Ende, dann mache ich eine Pause.« Aber als er das Buch durchgelesen hatte, nahm er das nächste zur Hand.
    Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er hundertzwanzig Jahre gelesen hatte. Sein Kopf schmerzte, und seine Augen brannten wie Feuer. Dann sah er, dass der Bibliothekar an seiner Seite schwebte.

    »Mach doch mal eine Pause«, schlug der Engel vor.
    Moses rappelte sich hoch.
    »Oh«, rief der Engel, »ist alles in Ordnung? Du bist ein bisschen grün um die Nase.«
    »Mir ist schlecht.«
    Der Engel wich zurück. »Nur zu.«
    In diesem Augenblick spürte Moses trockenes Papier in seiner Kehle aufsteigen, und er beugte sich vor und würgte. Er erbrach alle Seiten aller Bücher, die er konsumiert hatte. All das Pergament und Papier und Klebstoff und Einbände, Vorsatzblätter und Bindfäden und Pappe und geprägtes Leder quollen aus seinem Mund. Als er fertig war, lag eine knietiefe Masse halbverdauter Bücher in der Geschichtsabteilung.
    »Es tut mir schrecklich leid«, entschuldigte sich Moses.
    »Schon in Ordnung«, versicherte ihm der Engel. »Du bist nicht der Erste, der es übertrieben hat. Jesaja ist es genauso ergangen. Geh nach Hause. Einer meiner Assistenten macht das weg.«
    So stolperte Moses aus der himmlischen Bibliothek in den Garten Eden zurück, der der Ort der Unwissenheit ist. Und er weinte bitterlich.

Siebzehntes Kapitel
     
    Ich lege die Hände auf die niedrige Mauer vor mir, hole tief Luft und starre über das Panorama der Stadt. »Das ist fast zu schön, um wahr zu sein«, sage ich.
    »Zu schön«, stimmt Gideon mir zu. Er dreht sich ebenfalls um und betrachtet die Aussicht: unmittelbar unter uns das tief eingeschnittene Tal und ein Meer von Flachdachhäusern:
das Dorf Silwan. Zur Rechten der Ölberg. In der Ferne zur Linken die Mauern und die goldene Kuppel der Altstadt.
    »Man kann kaum glauben, dass man hier ist.«
    Gideon schüttelt nur leicht den Kopf. Seine Augen glänzen, sie quellen über vor Grünheit: vielleicht ist er

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