Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Schwelgt er in Erinnerungen, ist er voller Zweifel? An manche Orte sollte man sich von der Neugier nicht führen lassen. Aber für ihn ist es mehr als Neugier: Es ist ein Impuls, der ihn über das Bewusstsein für seine eigene Kahlheit und Altersschwäche hinaushebt, und über die Angst, wie sie wohl jetzt aussehen mag, dreißig Jahre nachdem er sie zuletzt sah. Es ist das Bedürfnis nach Trost, vielleicht nach Leidenschaft, nach einem Teil seiner selbst, den er längst verloren hat.
Er weiß nicht, warum er dort steht, wie in einem Traum, oder welche Hoffnungen und Absichten er hegt, als er weitergeht, traumwandlerisch, den Weg hinauf.
Angenommen, er hat das Gebäude betreten, angenommen, er wollte eben den Klingelknopf drücken, der ihn einlassen sollte (ihr Name steht neben der Wohnungsnummer), und dann sei jemand herausgekommen, und er habe es geschafft, unbemerkt ins Haus zu schlüpfen, in die kühle Dunkelheit der Eingangshalle, die leicht muffig roch und feucht war und in der ein altes Fahrrad unter dem Sicherungskasten an der Wand lehnte und der blasse, rote Schimmer des Lichtschalters durch das Dämmerlicht schien und wo der Anfang einer Betontreppe zu erkennen war, die nach oben führte - was dachte er, was er als Nächstes tun würde, was wollte er sagen, wenn sie schließlich die Tür öffnete, das sie in der Profanität dieses Augenblicks überraschen würde?
Es war, als sähe er sein Leben durch ein Teleskop und von ihrer letzten Begegnung bis jetzt wäre keine Zeit vergangen.
Also war es vielleicht egal, und man sollte sich einfach so verhalten, als wäre keine Zeit vergangen. Man sollte einfach man selbst sein: nur dass sein Selbst in alle vier Winde zerstreut
zu sein schien und sein Geist verwirrt, als er die Stufen erklomm und das Licht ausging.
Dort in der Dunkelheit hätte er irgendjemand sein können, er hätte sogar jung sein können. Er blieb eine Weile stehen, um dieses Gefühl zu genießen. Er schwebte in der schwerelosen Dunkelheit des Treppenhauses. Dann gewöhnten seine Augen sich an die Dunkelheit, er suchte den Lichtschalter, das Licht ging an, es hing ein vergoldeter Spiegel auf dem Treppenabsatz.
Sein eigenes Gesicht erschien im Spiegel: das Gesicht eines alten Mannes.
Ich stelle mir vor, dass er dann die Nummer auf ihrer Tür sah. Und den Namen daneben, in dem kleinen Fenster an der Klingel. Aber wie lange er dort stand, kann ich nicht ermessen. Ich kann auch nicht sicher sein, dass er geklingelt hat.
Gab es diesen Moment, in dem die Tür aufging, in dem sie einander gegenüberstanden? Ist sein Herz zusammengezuckt, als er sie sah? Hatte sie sich bis zur Unkenntlichkeit verändert?
Und angenommen, die Tür wäre aufgegangen, angenommen, er wäre eingetreten (die Rosen in seiner Hand vergessen), in die kleine, aufgeräumte Wohnung, in der sie immer noch Musik machte und Geigenunterricht gab, in ein düsteres Wohnzimmer, in dem es nach Politur und Lavendel roch und wo dunkle Gemälde an den Wänden hingen: Was haben sie zueinander gesagt, worüber haben sie gesprochen?
Man weiß nicht, ob er all das je gesagt hat, was in immer wiederkehrenden Träumen aus ihm herausgeströmt war, Worte, an die er sich beim Aufwachen nicht mehr erinnerte.
Ich wage mir nicht vorzustellen, was sie zu ihm sagte.
Er wartet auf dem Treppenabsatz, und das Licht geht aus. Die Tür schließt sich hinter ihm, und er verschwindet.
Ich weiß nicht, ob er zu ihr gegangen ist. Es war damals alles schon lange her, schon sehr lange her.
Mein Vater steht auf der Trumpeldor-Straße und schaut hinauf zu den Fenstern eines bestimmten Gebäudes. Ein Fensterladen wird geschlossen. Er legt einen Strauß Rosen auf den Boden. Er geht weiter, verschwindet um die Ecke und ist außer Sichtweite.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Ich bin wieder allein, im Zug auf dem Heimweg, aber nicht unzufrieden. Ich spüre sogar einen seltsamen Trost in dem leeren Sitz neben mir, in der sanften Bewegung des Zugs und dem dunkler werdenden Land draußen, vor dem sich mein Spiegelbild immer deutlicher abhebt. An jedem Bahnhof steigen Leute aus und ein, kämpfen mit ihrem Gepäck, haben Zeitungen und Aktentaschen unter dem Arm, und alles läuft in einer eigenartigen, umgänglichen Ruhe ab. Der Zug trägt mich in ein Nachtgebiet, in warme, vom Meer getränkte Dunkelheit, in glitzernde Fernen, auf gelbe Lichter zu.
Ich bin froh, allein zu sein.
Ich glaube, ich bin im warmen Herzen meines Lebens angekommen, an dem einen Ort der
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