Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
und die ich bewusst euch stelle -, ist diese: Wollen wir uns in dieser Ausnahmesituation, in diesem, man könnte fast sagen, für Ruhm und Ehre der Familie Shepher entscheidenden Moment in Streitereien und kleinlichen Zank verwickeln, wollen wir nur persönlichen und materiellen Gewinn, und wollen wir, im Ergebnis, den Kodex verkaufen, den Kodex begraben, oder wollen wir, was ich für richtig halten würde, der Nation diesen Kulturschatz frei und gratis zur Verfügung stellen (vielleicht auch für einen symbolischen Betrag), damit die Gelehrten und Experten, die schon darauf brennen, ihn gründlich untersuchen zu können, freien Zugang zu ihm haben?«
Allgemeiner Aufruhr, inmitten des tobenden Mobs skandieren ein imposanter Herr von rabbinischer Erscheinung und seine Satelliten: »Kodex begraben! Kodex begraben!«
»Ich möchte im Moment nur eins wissen«, meldet sich jemand zu Wort. »Was will das Fernsehen hier?«
Ein Chor der Empörung erhebt sich, und der arme Cobby, der sich vergeblich bemüht, ihn mit Gesten zu beruhigen, erklärt, dass ein kleines Kamerateam das Haus von außen filmen und ein paar Meinungen einfangen wird. Daraufhin geht allerdings ein Gewitter von Meinungen über den Unglücklichen nieder.
Mein Onkel knickt ein, und die opportunistische Sara Malkah mit dem von tausend Ärgernissen geröteten Gesicht übernimmt. »Es ist an der Zeit«, erklärt sie, »die entscheidenden Fragen zu stellen!«
»Ob Sie wohl«, ein älterer Herr mit fleckiger Weste und oben offenem Hemd zupft mich am Ärmel, »noch eine von diesen leckeren Mandelmakronen für mich hätten?«
Aber gerne doch; wobei ich etwas überrascht bin, dass er mir in die Küche folgt, im Moment eine Oase der Ruhe, und an meinem Ellbogen hängt, als ich die Kekspackung heraushole. Er ist vornübergebeugt, als ginge er durch eine Gruft mit sehr niedriger Decke, und ich habe den Eindruck, er hat mehr als nur ein bisschen Hunger. Ob er einen Tee möchte? Gerne. Und vielleicht ein Sandwich? Schon schneide ich ihm ein Fladenbrot auf.
Ich schaue ihn an, wie er dasitzt, müde mit sicher über achtzig Jahren, auf einem der wackligen grünen Stühle. Ich betrachte sein Gesicht und frage mich, was für eine verworrene Verwandtschaftslinie mich mit ihm verbindet. Oberflächlich betrachtet gibt es keine Ähnlichkeiten, wobei seine Knollennase etwas vage Vertrautes hat, und als ich ihm Essiggurken anbiete, lehnt er mit einem scharfen Luftholen ab und zeigt mir seine Handflächen, als hätte ich ihm Gift angeboten. Ist er ein Großonkel oder jemandes Cousin oder der unverheiratete Sohn einer lang verstorbenen Großtante? Er könnte auch ein Landstreicher sein, der einfach ins Haus spaziert ist, in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben und etwas zu essen zu bekommen, aber einen Moment lang fasziniert mich das Wunder der Vorstellung, dass er und ich gewissermaßen derselben Quelle entsprungen sind.
Während er versunken und konzentriert isst, höre ich Sara Malkahs Nebelhornstimme aus dem Wohnzimmer. Sie hat Cobby das Heft aus der Hand genommen und gibt den Ton an, wie man es sich hätte denken können. Jetzt sehe ich sie auch durch den Türrahmen: die Hände in die voluminösen Hüften gestemmt. Ihr Kopf wackelt unter der unerschütterlichen Perücke, sie ereifert sich im Namen der, wie sie sagt, »wahren Familie«. Der Kodex sei schon einmal gestohlen worden, erklärt sie. Nur über ihre Leiche würde er nochmals gestohlen werden.
Cobby: »Soll das heißen, mein Vater war ein Dieb?«
Sie: »Allerdings. Das soll heißen, dein Vater war ein Dieb!«
Jetzt schiebt sie ihren steinalten Bruder Yossel vor wie eine Trophäe, auf dass er Zeugnis ablege. Auf seiner Gehhilfe schlurft er zittrig vor. »Sag es ihnen, Yossel. Sag ihnen, woran du dich erinnerst.«
Er murmelt etwas Unhörbares. Sein Kopf nickt gefährlich auf dem dünnen Hals, und er wirkt, als könne er jeden Moment tot umfallen, aber Sara Malkah lässt sich nicht erschüttern. »Wie bitte, Yossel? Woran erinnerst du dich?«
»Wie sollen wir was verstehen«, ruft einer, »wenn wir ihn nicht mal hören?«
In einer übermenschlichen Anstrengung hebt der alte Mann die Stimme. Sie klingt wie eine frühe Phonographenaufnahme: unheimlich und geisterhaft, wie eine Stimme aus einer vergangenen Zeit. »Er war bei uns zu Hause«, sagt er.
»Wer war bei euch zu Hause?«
»Joseph Shepher, er ruhe in Frieden, war bei uns zu Hause, als ich ein Kind war.«
»Na, so eine Überraschung! Joseph Shepher hat
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