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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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Schatz.«
    »Und ihr habt es auch so schön hier.«
    »Es ist ein Paradies. Warum lächelst du?«
    »Ich habe mich gefragt, was aus Palael geworden ist.«
    Er zuckt peinlich berührt die Achseln. »Och, na ja, weißt du - aus dem Quatsch bin ich lange rausgewachsen.«
    »Schade«, sage ich.

    Er wendet sich wieder dem Zweig eines Baums zu, den ich nicht kenne, und zeigt mir eine glatte und wunderschöne Frucht.
    »Avocado.«

Zweiundzwanzigstes Kapitel
     
    Ich werde nicht mehr heiraten, ich werde keine Kinder haben. Ich weiß nicht mehr, wann dieses Gefühl, das viele Jahre lang nur eine vage Ahnung war, zur Gewissheit wurde. Vielleicht war es, als ich das letzte Mal meinen Bruder besuchte.
    Er lebt jetzt weit weg, Reuben Michael, der als Mike wiedergeboren wurde. Ein kleines, anonymes englisches Dorf auf dem Land, in dem lauter Informatiker und Pendler leben, ein Ameisenhügel am westlichen Rand von London, und täglich fahren die Züge geschäftig hin und her. Nach langen Kämpfen hat er es schließlich doch geschafft. Er wohnt mit Frau und Tochter in einem großen, sonnigen Haus, einem Haus ohne Geschichte, das extra für ihn auf der grünen Wiese neu gebaut wurde.
    Mir ist es fremd, dieses Zuhause, das mein Bruder sich gebaut hat, voll von nagelneuen Markenteppichen und Designerfliesen, ohne ein Erinnerungsstück oder auch nur ein altes Foto: nichts, was an den Ecken zerschlissen wäre, nichts, mit dem man etwas verbände, nichts, kurz gesagt, was in die Vergangenheit gehört. Mein Bruder selbst ist ein ganz neuer Mann, in weicher weißer Baumwollhose und grauem Seidenhemd und mit einem Dreitagebart: älter, selbstsicherer und immer noch gutaussehend. Er hat eine blonde, blauäugige Frau, die ich mag, und die uns an einem Freitagabend Räucherschinken macht: Wir sitzen um den runden Ahorntisch
herum, trinken Wein und sprechen über ernste Dinge. Er sagt: »Ich weiß nicht, wie du in diesem lächerlichen Job arbeiten kannst.« Er sagt: »Wie geht’s dir da oben in deinem Elfenbeinturm?« Er geht in Abwehrhaltung, wenn ich die Familie erwähne. »Für mich«, sagt er, »bin ich die erste Generation. Ich greife auf nichts zurück. Es fängt mit mir an.«
    Später betrachte ich ihre blonde, blauäugige Tochter, die in ihrem Zimmer liegt und schläft. Sie hat das Gesicht eines Engels, diese eigenartige, jenseitige Erscheinung von Kindern im Schlaf. Ich frage mich, wer sie ist, meine Nichte, ihr Kopf bar jeder Geschichte und ihr Haus ohne Kerzenleuchter. Ich frage mich, ob sie sich fragt, wer sie ist. Aber sie ist glücklich und privilegiert, ihr Kinderzimmer ist voller Spielsachen. Sie isst gut, sie schläft fest. Sie ist nicht wie ich.
    In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich keine Kinder haben würde. Denn um Kinder zu haben, muss man etwas weiterzugeben haben. Entweder das oder die Leidenschaft des Neuanfangs. Ich hatte diese Leidenschaft nicht. Und wie sollte man etwas weitergeben, wenn man im luftleeren Raum schwebt? Was ich geben könnte, wären Erinnerungen und Sehnsucht, ein Gefühl des Verschobenseins, eine Quelle des Schmerzes.
    Und da begriff ich etwas über den Unterschied zwischen Reuben und mir. Ich würde eher den Schmerz weitergeben als gar nichts. Reuben gibt lieber gar nichts weiter als den Schmerz. Mein Bruder sah sich als die erste Generation. Ich sah mich als Teil der letzten.

Dreiundzwanzigstes Kapitel
     
    Im Winter 1968 fuhr mein Vater allein nach Jerusalem. Seine Mutter lag im Krankenhaus im Sterben. Man rechnete schon lange mit ihrem Tod.
    Tag und Nacht wachte die Familie an ihrem Bett, aber sie rührte sich nicht. Sie lag in dem weißen Bett wie ein Vögelchen, eine Frau, die einst groß und energisch gewesen war, die viele Kinder geboren hatte, sie war nun beinahe zu einem Nichts zusammengeschrumpft, die Haut wie Pergament, die Knochen so leicht wie Asche.
    Manchmal hatten sie den Eindruck, sie hätten ihre Augen flackern sehen. Ihre glasigen Augen starrten hinter den Lidern hervor, die nicht ganz geschlossen waren.
    Mein Vater übernahm die Mittags- und die Mitternachtsschicht. Morgens schlief er. Nachmittags wanderte er durch die Straßen Jerusalems.
    Manchmal regnete es, manchmal schien die Sonne. Der Regen fiel in plötzlichen Schauern und sammelte sich an den Straßenecken zu großen Pfützen, die schwierig zu überqueren waren. Dann kam die Sonne wieder heraus und verbreitete eine schwache Wärme.
    Jerusalem passte zu seiner Stimmung: eine Stadt, die unter egal welchen

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