Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
schön großzügig mit dem Geld anderer Leute.«
»Aber sie untersuchen den Kodex. Willst du nicht, dass er untersucht wird?«
»Zum Teufel mit dem Kodex! Wenn sie ihn untersuchen wollen, sollen sie dafür zahlen!«
Er erhob sich angewidert und ging aus dem Zimmer.
Ich blieb am Tisch sitzen und aß die Matzen auf. Einen aufmüpfigen Moment lang wünschte ich, ich hätte einen Pauschalurlaub auf Teneriffa gebucht. Eine Minute drauf klopfte es am Fenster. Es war unser Beobachter, sein Gesicht erschien vor dem Fenster wie das eines Taggespensts.
»Bitte«, fing er an, als ich aus der Tür trat, und mit einem besorgten Blick zurück zum Haus führte er mich außer Sichtweite.
»Gveret Shepher«, hob er an, als wir in Sicherheit waren.
»Vielleicht stelle ich mich erst einmal vor: Mein Name ist Gideon Ben Gibreel.«
Ich wollte ihm die Hand geben, aber er reichte mir seine natürlich nicht. Allerdings verbeugte er sich und warf mir einen schüchternen Seitenblick zu wie ein halb zahmer Vogel, der hofft, dass man ihm Krumen gibt und ihm nichts tut. Er war groß und dünn, sein Gesicht gleichzeitig fremd und vertraut; seine Haut hatte den blassen Olivton eines Orientalen. Ich mochte seine Augen: Sie waren grün, bezwingend klar, und ich hatte das seltsame Gefühl, schon einmal in diese Augen geschaut zu haben, vielleicht vor langer Zeit, in einem früheren Leben.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte ich. »Sie waren auch bei meinem Onkel.«
»Das stimmt. Ihr Onkel ist sehr nett«, sagte er, »aber er konnte mir leider nicht so weiterhelfen, wie ich es bräuchte. Ihr anderer Onkel«, er schaute verlegen, »weigert sich, mit mir zu sprechen.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da helfen kann.«
»Ich auch nicht«, er lachte hell und leise. »Aber vielleicht doch - wissen Sie, ich muss den Kodex sehen.«
»Dann müssen Sie sich beim Institut darum bemühen.«
»Das habe ich schon«, er streckte mir in einer Geste der Hilflosigkeit die Handflächen entgegen. »Dort sind sie ganz schön rigoros. Sie gestatten es niemandem, der nicht die Erlaubnis Ihres Onkels hat. Und Ihr Onkel wiederum schickt mich wieder zu denen. Anscheinend ist nicht ganz klar, wem der Kodex gehört.« Sein Gesichtsausdruck, als er das sagte, war drollig, als würde ein Scherz, den nur er kannte, seinen Worten ein ironisches Gewicht verleihen.
»Es scheint da Unstimmigkeiten zu geben, ja.«
»Das ist unglücklich. Ich habe ganz bestimmte und dringende Gründe. Und ich komme von weit her. Wenn sie
mich wenigstens einen Blick darauf hätten werfen lassen - ich kann Ihnen versichern, dass es nicht geschadet hätte. Jetzt …«
»Jetzt?«
Er sah sich besorgt um. »Jetzt werden alle möglichen Parteien sich dafür interessieren.«
Ich holte tief Luft. »Herr Ben Gib - Herr Ben Gibreel …«
»Bitte.« Er lächelte und entblößte eine Reihe perfekter Zähne. »Nennen Sie mich doch Gideon.«
»Ich fürchte, ich weiß wirklich nicht, was ich da tun kann. Ich würde den Kodex selbst sehr gern sehen, und in all dem Durcheinander bin ich damit auch noch nicht weitergekommen.«
»Aber Sie werden ihn sehen«, drängte er. »Sie gehören zur Familie.« Wieder dieser Seitenblick. »Man wird es Ihnen nicht verweigern können. Ihr Vorfahre Shalom Shepher war ein großer Gelehrter.«
»Davon habe ich gehört.«
»Ein großer Magih - jemand, der Schriftrollen überprüft. Wissen Sie, was ein Magih ist?«
»Ja«, antwortete ich ein bisschen gereizt, »ich weiß, was ein Magih ist. Also, ich denke, Sie sollten mit meinem Onkel darüber sprechen.«
»Ja, aber vielleicht ist es nach all dem besser, ihn nicht noch mal zu belästigen …« Er lächelte immer noch, schaute mich aber traurig, fast schon mitfühlend an. »Gveret Shepher. Ich fürchte, das ist keine private Familienangelegenheit mehr. Im Gegenteil.« Er wandte sich abrupt um, und sein silbriger Kaftan schwang durch den Staub. Aus der Nähe entdeckte ich im Stoff einen kyrillisch anmutenden Streifen, dessen Symbolik sich mir nicht erschloss. »Erzählen Sie mir etwas über den Kodex. Ist er sehr alt?«
»Ziemlich alt, ja.«
»Und auf Velin geschrieben?«
»Ja.«
»Und in drei Spalten?«
»Ja, aber …«
»Und mit vollständiger Massorah . Aber was ist mit dem Kolophon?«
»Der Professor hält es für gefälscht. Er meint auch, der Text sei korrumpiert.«
»Ja natürlich denkt er das.« Er warf in einer kleinen, zwingenden Geste den Kopf zurück. »Gveret Shepher, ich bin hier, um es Ihnen zu
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