Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
vor.
Was würde er in Amerika tun? Ein bisschen Unterricht, ein bisschen Journalismus. Er würde sein Einkommen aufbessern, indem er Torahrollen verkaufte. Er würde tatsächlich genau das Gleiche tun, was er auch hier in Jerusalem
tat, denn wohin ein Jude auch reist, er kann sich sein kleines Jerusalem schaffen.
In diesem Moment sagte mein Großvater zu meiner Großmutter: »Verkauf den Samowar.« Verkauf den Samowar, wiederholte sie für sich. Die Leute verhungern, und er will ihnen einen Samowar verkaufen. Aber sie schlug den Samowar in eine Decke ein und trug ihn zu Hannah Raisl.
Hannah Raisl, deren Mann zu alt war, um noch einberufen zu werden, runzelte die Stirn und sagte: »Er ist ein bisschen zu extravagant für uns. Aber fragen wir doch Leah!« Und die zweite Schwester, Leah, wurde geholt. Leah tat, als hätte sie den Samowar noch nie gesehen.
»Was für ein extravagantes Stück!«, sagte sie. »Aber er muss ja furchtbar zu reinigen sein, seht mal, wie der Schmutz sich in den Rillen absetzt. Um so etwas muss man sich richtig kümmern. Mal sehen, was Sheinah Gitl davon hält.«
Sheinah Gitl hielt gar nicht viel von Tee aus einem Samowar, meinte aber, Dvoirah könnte Interesse haben. Dvoirah sagte: »Joseph will nach Amerika! Was würde denn sein feiner Dr. Herzl dazu sagen?«
Meine Großmutter hatte keine Lust, ihre letzten beiden Schwägerinnen auch noch zu belästigen, sondern trug den Samowar in die Hajehudim-Straße und verkaufte ihn für einen Spottpreis an einen Händler. Und von diesem Tag an hatte sie mit den Schwestern ihres Mannes nichts mehr zu tun.
Das amerikanische Schiff entpuppte sich als Märchen, der Preis für die Überfahrt als unbezahlbar, erst hundert Napoleons, dann zweihundert, dann dreihundert. Und als es schließlich die Segel zu seiner imaginären Reise setzte, transportierte es Heerscharen von Passagier-Hoffnungen, die samt und sonders im tiefen Herzen des Mittelmeers versanken.
In diesem Jahr fielen Wanderheuschrecken über das Land her, die mit dem Ostwind kamen und ins Meer gestürzt wären, wenn nicht plötzlich Westwind aufgekommen wäre, sodass sie auf die Felder und Weinberge und Orangenplantagen bei Jaffa fielen und alles kahlfraßen. In Jerusalem brach Typhus aus: Im Krankenhaus Bikkur Cholim wurde das Zelt der Fünftausend zerschnitten, um Laken für die Kranken und Verletzten daraus zu machen, und auf dem Mamillah-Friedhof unten am Teich führte Shalom Shepher lange Gespräche mit Elia, der ihm versprach, der Messias werde kommen, der Messias werde ganz bald kommen. Er schlurfte blass und fantasierend zur Wohnung zurück, brach auf dem Sofa zusammen und weigerte sich zu essen.
Vom Jerusalem in seiner Seele schließlich vernichtet, lag er auf dem Sofa meiner Großmutter als verschrumpelte Hülle, kaum lebendiger als das Leichentuch, in dem er bald beerdigt werden würde.
Statt eine Überfahrt nach Amerika zu buchen, steckte mein Großvater das Geld aus dem Verkauf des Samowars in gefälschte Papiere, mit deren Hilfe er die Stadt heimlich mit einem Auto verlassen konnte. Spät in der Nacht ging er, in den Schal seiner Frau gehüllt, vom Dachboden hinunter und ein kurzes Stück die Jaffa-Straße entlang. Dort, am Rande der Stadt, wartete er bis zur Dämmerung.
Gegen Mittag kam das Auto endlich, mehrere Stunden zu spät und bereits voller Menschen. Mein Großvater schob sich zwischen sie. Zum Bersten gefüllt und umringt von weinenden Frauen, startete der Wagen und fuhr los.
Als er bereits auf dem Rücksitz saß, sein Proviantbündel unter sich zerdrückt, entdeckte Joseph ein Gesicht in der Menge: das von Schonbaum, dem Drucker, dessen Ausdruck seltsam verzerrt war und der ihm zurief: »Reb Shepher! Reb
Shepher! Ihr Vater ist verstorben!« Dann wurden die Türen geschlossen und die Rollos heruntergezogen, und der Wagen machte sich auf den Weg von Jerusalem fort.
Neuntes Kapitel
Zuhause im Bungalow saß Saul neben seinem Radio wie ein Ölgötze, abwechselnd verschlossen und aufbrausend, seine wässrigen Augen funkelten mich über die Matzen hinweg an. »Meinst du im Ernst, ich kriege etwas herunter?«, schäumte er. »Dieser Professor, der hier klauen gekommen ist, der hat mir auch den Appetit genommen.«
»Ich meine, du solltest etwas essen«, sagte ich gleichmütig.
»Du hast gut reden! Dir ist das ja egal. Aber Cobby, dieser Pischer , der Schlaumeier, erzählt allen, er will ihn weggeben. Und hat er auch nur einen von uns gefragt? Nein. Der ist ganz
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