Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
schmerzhafter daran, dass der Richtige einmal dagewesen war und ich ihn hatte gehen lassen. Plötzlich überwältigte mich das Verlangen, Daniel zu sehen, die Dinge endlich zu klären, zu sagen, was ich im Kopf hundertmal geprobt, jedoch nie ausgesprochen hatte.
Tante Fania suchte Oliven aus. Sie schien mein langes Schweigen kaum zu bemerken. Ich spürte plötzlich eine Fülle kleiner Erinnerungen in mir aufglühen wie Kohlen
und mich innerlich verbrennen: Daniel im Schneidersitz auf meinem Studentenbett, wie er sein Anliegen mit energischen Gesten unterstreicht. Daniel auf der Bühne, unermesslich weit weg, der mir mit den Klängen seines Saxophons das Herz bricht; seine schlanken, unsteten Finger, die mir einen langen Schauder über den Rücken jagen; seine braunen Augen voller Traurigkeit und Vorwürfe, wie ich sie zuletzt gesehen hatte.
All diese schmerzhaften Erinnerungen brachen hervor, geräuschlos, wie ein Vulkanausbruch tief unten im Meer. Sie kühlten sofort aus in der Kälte meiner äußerlichen Ruhe, die alle zum Narren hielt. Selbst mich.
»Magst du saure Gurken?« Tante Fania warf mir einen sonderbaren Blick zu. »Woran denkst du?«
Ich lächelte. »Davon kriege ich Sodbrennen. An den Kodex«, antwortete ich.
Achtes Kapitel
Meine Urgroßmutter schied mit dem Jahrhundert dahin, und als sie starb, ging Shalom Shepher auf die Wanderschaft und lieferte sich dem Wohlwollen seiner Kinder aus, denn es heißt: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, indem du sie mit Speis und Trank versorgst und ihnen Kleidung gibst, sie nach Hause holst und ausführst und sie mit freundlichem Gesicht mit allem versorgst.«
Von Sukkot bis Chanukka wohnte er bei seiner ältesten Tochter im Haus mit der Hand in der Chabad-Straße, von Chanukka bis Purim bei seiner zweiten Tochter. Pessach verbrachte er bei seiner dritten Tochter in Nachalat Shiva, und Shavuot bei der vierten in Mishkenot. An den hohen Feiertagen war er immer bei seinem Sohn. »Denn«, erklärte er,
»er ist mein Sohn.« Seiner Schwiegertochter brachte dies die ewige Missgunst der Schwestern ihres Mannes ein.
Auf diese Weise verbrachte er die letzten siebzehn Jahre seines Lebens. Und obwohl seine Kinder sich redlich bemühten, war er nie willkommen. Er verzehrte große Mengen Essen, denn im Alter gewann er den Appetit seiner Jugend wieder. Er lungerte in der Küche herum und kritisierte die Köchin. Er stand nachts auf, betete, aß und weckte alle auf. Wenn er zur nächsten Tochter umzog, achtete er stets darauf, sie zu ihrem Nachteil mit der letzten zu vergleichen, und er gab sein Bestes, um seine Kinder gegeneinander aufzuhetzen. Aber sie weigerten sich, mit ihm zu streiten, denn es heißt auch: »Kinder, die ihren Eltern täglich gemästetes Geflügel zu essen geben, es aber mit Groll im Herzen tun, werden ihre göttliche Strafe erhalten.«
Wohin er auch ging, trug er sein geheimnisvolles Kästchen bei sich, das keine seiner Töchter und schon gar nicht seine nichtsnutzigen Schwiegersöhne berühren durften. Er hielt es eifersüchtig unter seinem Kaftan verborgen, und nachts stellte er es unter sein Bett. Auf einem Feld, unter einem Olivenbaum, traf er zufällig Elia. Er fragte ihn nach dem Messias und nach bestimmten Gesetzesstellen. Er saß in einer Ecke des Lehrhauses und machte seine Berechnungen. Er ging mit seinem kostbaren Kästchen zur Klagemauer.
Es war eine Zeit der Apokalyptik wie jede andere auch. In der amerikanischen Kolonie nähten sie ein großes Zelt zusammen, in dem Jesus, wenn er wiederkehrte, die glücklichen ersten fünftausend seiner Anhänger treffen sollte. Missionare verteilten in den Straßen der Altstadt religiöse Traktate, mit denen, da sie in Englisch geschrieben waren, niemand etwas anfangen konnte, außer um etwas einzuwickeln oder abzuwischen. Und in den Konsulaten sammelten sich die Geier.
Reb Shalom kehrte am Ende seiner täglichen Wanderung mit irrem Blick und erschöpft nach Hause zurück, setzte sich in eine Ecke des Wohnzimmers und murmelte vor sich hin. Spät nachts wachte mein Großvater auf und fand ihn im Mondlicht über sein geheimnisvolles Buch gebeugt. Er hatte sich im Labyrinth seiner Berechnungen verirrt, war vom Gespinst seiner eigenen Mythen umwoben. Die Machthaber jener Tage waren die Amalekiter, Kaiser Franz Joseph ein persischer Herrscher. Er erwartete täglich die Streitkräfte Alexanders des Großen.
Der Krieg wurde erklärt: Nach und nach wurden osmanische Juden zu den Fahnen gerufen. Die
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