Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
verbrachte, mit seiner Mutter zusammen Nudeln zu machen. Als er am nächsten Tag wieder zur Schule kam, verlangte der Rebbe eine Entschuldigung.
»Gott war ein Betrüger!«, wiederholte der Junge. »Dabei bleibe ich, und ich entschuldige mich nicht dafür!«
Der Lehrer sperrte ihn für eine Stunde in die Besenkammer, und dort, in der nach Lumpen stinkenden Dunkelheit, fiel er vom Glauben ab.
Fortan war er zur Erheiterung seiner Schulkameraden zu jeglicher Blasphemie bereit: Er dichtete die Liturgie in ungehörige Verse um, sprach das Shema in halsbrecherischer Geschwindigkeit rückwärts und schrieb den Namen Gottes auf ein Stück Papier. Das zerriss er und wartete darauf, dass der Zorn Gottes auf ihn herabkomme. Nachdem er seinen Glauben verloren hatte, vollzog er diesen Akt häufig vor Zeugen, ohne dass ihm dadurch Schlimmes widerfuhr.
Die Familie war nicht streng orthodox: Die Jungen trugen ihre Schläfenlocken kurz, nur ein Haarbüschel, das kaum zu sehen war, und auf dem Kopf trugen sie Schirmmützen oder Kappen anstelle der Kippah. Mein Großvater hielt zwar die Gebote ein, ließ seinen Kindern aber ihre Meinung. Er erwartete allerdings von ihnen, dass sie den Shabbat einhielten. Er ließ sie samstags nach dem Gottesdienst ihre Freunde besuchen, wusste aber nicht, dass Cobby zum Treffen der Sozialistischen Jugend ging oder Amnon den ganzen Weg nach Beit Hakerem rannte, seine Schirmmütze abwarf und mit den Heiden Fußball spielte.
Als mein Vater zwölf Jahre alt war, zogen sie in den neuen Bungalow in Kiriat Shoshan. Von da an mussten die Kinder jeden Abend von der Schule nach Hause eine Meile weit
über felsigen Grund in das neue Viertel gehen, vorbei am Leichenschauhaus des Krankenhauses »Tore der Gerechtigkeit«, wo die Toten in der Dunkelheit lagen. Einzig eine Kerze in einer Orangenschale beleuchtete ihnen dabei den Weg. Im Sommer kamen die Skorpione und Schlangen heraus. Im Frühjahr gab es einen kurzen Blütensturm. Sie waren mit allem vertraut, was wuchs: Zyklamen, Anemonen, Spritzgurken, Mandragoren.
Nachts leistete mein Vater dem Wachmann Gesellschaft auf seiner Runde durch die Nachbarschaft und ging bis in die frühen Morgenstunden durch die sternenhellen Straßen. Er kehrte ausgekühlt in das Bett zurück, das er sich mit Saul teilte, kroch unter die Decke und zog sich den warmen Teil herüber, sodass der dünnere Junge allein zitterte. Am nächsten Morgen warf er, in die Decke gehüllt, einen unerlaubten Blick in Sauls neueste Gedichte.
Mit achtzehn reiste er im Sommer zum ersten Mal allein nach Tel Aviv, ratterte mit einem alten Bus aus den Hügeln in die Ebene, den Blick starr auf die unbekannte Landschaft oder das unvermeidliche Schild »Rauchen verboten, Spucken verboten« gerichtet. Er wanderte wie ein Tourist zwischen den weißen Gebäuden umher. Er ging an der Küste entlang und bewunderte das Kasino mit den gestreiften Markisen und den beiden runden Bannern, wie eigenartige Windmühlen, oben auf einer maurischen Balustrade. Er spähte durch den Zaun zwischen dem Männer- und dem Frauenstrand auf plumpe Jekkes , magere Jemenitinnen und dicke Ballebustahs, die in ihren braunen Strumpfhosen auf dem Sand saßen. Da er nie die Gelegenheit gehabt hatte, schwimmen zu lernen, streifte er, eine Jerusalemer Landratte, in Schuhen über den Sand und betrachtete das blaue Meer mit all seinen fernen Verheißungen.
Er hatte sein Studium abgeschlossen, aber auf dem handschriftlichen
Zeugnis, auf dem er ein Alpha plus für Talmud bekommen hatte und ein Alpha für Literatur, stand unerklärlicherweise ein Beta minus in Biologie, und da Biologie sein Lieblingsfach gewesen war, war das ein schrecklicher Schlag. Seine Pläne gerieten ins Wanken, sein Selbstbewusstsein war erschüttert. Nichts, was sein Vater oder seine Mutter sagten, munterte ihn auf. Ein Beta minus wurde zum Dreh- und Angelpunkt für seine gesamte Zukunft.
In diesem Winter fuhr er hinauf nach Tiberias und verbrachte ein frostiges Zwischenspiel von drei Wochen in Sauls Junggesellenwohnung, einem so trostlosen Loch, dass selbst die Wände weinten, oben in einem Gebäude, das von Kakerlaken und streunenden Katzen nur so wimmelte. Sauls Tür war durch eine grinsende, konkave Wunde gekennzeichnet, die seine Vormieter verursacht hatten, weil die Tür sich wegen ihres verzogenen Rahmens nur mit einem Tritt öffnen ließ. Im Erdgeschoss neben dem Eingang lag den ganzen Tag die Vermieterin mit einem stinkenden Mopp auf der Lauer, und wenn die
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