Das Vermächtnis des Templers
uns Flügel.»
Johannes schüttelte den Kopf.
«Nähme ich Flügel der Morgenröte…», begann er.
«Sei still!», unterbrach ihn Alanus. «Ja, du hast die Schrift des Psalmisten vorzüglich gelernt. Aber es ist das eine, gebildet zu sein, und das andere, die Sache des Herrn voranzubringen. Der Zusammenbruch unseres Ordens war nur noch eine Frage der Zeit, das weißt du wie ich. Alle Versuche, ihn zu reformieren, sind gescheitert.»
«Die Sache des Herrn?», entgegnete Johannes. «Ist es die Sache des Herrn, Menschen zu foltern und zu töten?»
Alanus schüttelte den Kopf.
«Das trifft nur die wenigsten, die Starrköpfe und ewig Gestrigen, jene, die nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit des Ordens abgelaufen ist. Es gibt in Jerusalem nichts mehr zu verteidigen, keinen Pilger mehr zu schützen. Und seit wann darf sich ein Orden nur noch mit Geldhandel beschäftigen?»
«Geld, das dem Papst und Philipp hochwillkommen ist.»
«Philipp weiß nicht, dass er nur noch geduldet ist», sagte Alanus. «Er wird sterben. Schon im nächsten Jahr.»
Johannes sagte nichts mehr, wandte sich ab und blickte zur Wand. Alanus nahm den Hocker, der neben dem Bett stand, und setzte sich.
Sie schwiegen. Draußen war es ganz still geworden. Durch das Fenster konnte man von fern Hundegebell hören.
Johannes lauschte. Nun begann die Zeit der Finsternis. Viele Stunden würde es dauern, bis die Sonne zurückkehrte.
«Wir sind das Licht der Welt», flüsterte Johannes. «War es nicht so?»
Alanus blickte auf und nickte.
«Ja», sagte er leise, «und das werden wir weiterhin sein.»
Wieder schwiegen sie.
«Was soll jetzt geschehen?», fragte Johannes.
«Das liegt nun alles in unserer Hand», antwortete Alanus. «Neue Orden werden sich gründen. Und wir werden dabei sein.»
Johannes überlegte einen Augenblick.
«Als wir gemeinsam die Bücher studierten, damals in Laon, wusstest du da schon, was geschehen würde?»
Alanus nickte.
«Warum hast du mir geholfen, das Geheimnis zu lösen?»
«Hast du das Geheimnis gelöst?»,
«Nein», antwortete Johannes kurz.
«Das wundert mich nicht. Ich selbst habe versucht, es zu lösen, viele Jahre lang. Es ist nur ein Spiel. Man lässt dich durch ein Labyrinth laufen, damit du die wahren Ziele nicht erkennst.»
«Die wahren Ziele?»
«Es geht immer um Macht, um die Herrschaft über Menschen, die aufblicken und ein Ziel suchen. Man gibt ihnen eine Hoffnung, und dann lässt man sie für sich laufen. Und weil sie dies nicht durchschauen, laufen sie unablässig, bis an das Ende ihres Lebens. Und sie werden es nicht einmal bemerken, dass sie für andere gelaufen sind, für die Idee eines der Großen, die unsere Welt in Bewegung halten. Und die wenigsten merken, dass ihr Weg nicht der ihre ist, sondern der eines anderen. So verspielen sie ihr Leben.»
«Und du, bist du sicher, dass du deinen eigenen Weg gehst? Dass du den Weg gehst, den der Herr dereinst gegangen ist? Schau deine Kleidung. Wer verleiht dir dieses Amt? Wer macht dich zu dem, was du bist? Ist es der Herr? Privilegien kann man geben, aber ebenso schnell wieder nehmen.»
«Es ist ein Neuanfang», entgegnete Alanus. «Und ich gestalte ihn mit. Jede Zeit muss den Weg des Herrn von neuem gehen. Und es braucht Menschen, die diesen Weg weisen.»
Johannes drehte sich um und blickte ihm ins Gesicht.
«Warum bist du zu mir gekommen? Warum lässt du mich nicht töten? So wie die anderen.»
«Weil ich in Laon genug Zeit hatte, dich zu beobachten. Du bist ein außergewöhnlicher Krieger und zudem in allen Wissenschaften bewandert. Deine Ausbildung war vollkommen. Und wenn du ein Wort gibst, dann gilt es. Nur wenige sind so befähigt, die neue Welt aufzubauen, wie du.»
Wieder schwiegen beide Männer. Die Kerze am Boden vor dem Bett war fast niedergebrannt.
«Komm mit mir, Johannes. Männer wie du werden gebraucht. Du wirst große Aufgaben übernehmen können und wichtige Ämter bekleiden.»
Alanus ging auf Johannes zu. Sie umarmten sich, so wie sie es in Laon getan hatten, wenn der Gottesdienst in der Kapelle der Templer zu Ende gegangen war.
«Überleg es dir», sagte Alanus.
Dann wandte er sich um, wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen.
«Du musst dich bis morgen entscheiden.»
Noch einmal hielt Alanus kurz inne. Dann verließ er die Zelle.
Lange blickte Johannes ins Leere. Schließlich legte er sich auf das Bett. Es war einzig die Müdigkeit, die ihn einschlafen ließ.
Doch früh am Morgen erwachte er aus einem Traum. Er konnte sich nur noch an einzelne
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